BIOGRAPHIE

von

Violanthe Christiane Luise Rappl (1927-2014).


 



Überarbeitete und ergänzte Fassung vom März 2018.
Damalige Hinzufügungen ab hier im Kapitel 'Konzeptionell-künstlerischer Kontext'.
Weitere Hinzufügung vom 21.08.2019 hier.
Letzte Hinzufügung vom 17.01.2020 hier.
Rechtschreiblich wie inhaltlich an wenigen Stellen korrigiert/aktualisiert im September 2023.



Versuch, das tapfere und geweihte Leben der Künstlerin Violanthe Rappl nachzuzeichnen.

 



Inhaltsverzeichnis

Übersicht

Persönliche Beziehung

Kindheit und Lebensthema

Prüfungen und Hilfen

Familiäre Herkunft

Wohn- und Vermögensverhältnisse

Haus- und Grunderwerb

Weltanschauliche Entwicklung

Zwischenmenschliche Leere

Künstlerische Selbstrettung

Der väterliche Lehrmeister

Der Briefwechsel

Konzeptionell-künstlerischer Kontext

Gestalterische Entwicklung

Russisches Gleichnis

Metaphernschlüssel

Künstlerisches Vermächtnis

Ableben

Sinnsprüche

Editorische Notizen

 

 

Übersicht

Violanthe Christiane Luise Rappl wurde am 06.09.1927 (um 07:15 Uhr) in Donauwörth (Donau-Ries/Bayern) geboren. Sie war eine deutsche Malerin, Kunsttherapeutin und Autorin. Ihr Werk umfaßt etwa 450 visionäre und impressionistische Bilder, Konzeptakte, Studien, mehrere Schriften, einige kleinere Plastiken, Keramiken und Themenobjekte. Zentrales Motiv ihrer Arbeit war die Sehnsucht nach spirituellem Aufbruch und der dazu notwendigen Bewußtseinsveränderung im Menschen.

Violanthe Rappl verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Mülheim a. d. Ruhr. Nach einem Studium an der Kunstakademie in Düsseldorf trat sie in die Meisterklasse von Prof. Rudolf Szyszkowitz (1905-1976) in Graz ein – er gehörte zu den bedeutendsten österreichischen Malern des 20. Jahrhunderts.

In Mülheimer Ausstellungen 1955, 1957 und 1958 steht Jola Rappl – obwohl noch in ihrer Ausbildung – bereits gleichberechtigt neben längst so prominenten Künstlern aus ihrer Stadt wie Carl Altena, Hans Fuchs, Johannes Geccelli, Werner Gilles, Otto Pankok, Ernst Rasche, Heinrich Siepmann, Daniel Traub. Schon ihr erster öffentlicher Auftritt 1955 wird als „Überraschung“ gewürdigt:

„Ihre beiden Bilder – Portrait – F. R. [Franz Rappl – ihr Vater] und Ottfried – gehören zu den bedeutenden Dingen der Schau, sie erzählen etwas von dem außerordentlichen Farbsinn, von der Beherrschung des Lichtes, der Kompositionsgesetze (gleichbedeutend steht die Landschaft neben dem Bildnis Ottfrieds), von dem Reichtum der Empfindungen, deren die Künstlerin fähig zu sein scheint und denen sie über das Portrait Ausdruck zu geben vermag.“ (Unterzeichnet mit ‚pp‘ am 07.12.1955 in der Nummer 283 einer Mülheimer Zeitung.)

Wie uns von Dritten bestätigt wurde, war sie drei Jahre lang Teilnehmerin der internationalen Sommerakademie für bildende Kunst in Salzburg, damals noch unter Leitung des berühmten österreichischen Malers Oskar Kokoschka (1886-1980): In ihrem Nachlaß fand sich ein Zeitungsphoto von der Sommerakademie 1959: Deutlich gleicht eine Studentin in Profil und Haartracht der Gestalt der Künstlerin aus dieser Zeit.

Auf Empfehlung des damaligen Landeshauptmannes Hans Lechner und auf ausdrücklichen Wunsch Oskar Kokoschkas übernimmt Prof. Szyszkowitz 1964 die Leitung der Salzburger Sommerakademie. Wenigstens drei weitere Jahre gehörte sie seiner Studienklasse an: 1965 und 1966 erhielt sie den Förderpreis der Stadt Salzburg für ausgezeichnete Leistungen im Seminar ‚Figurative Malerei‘.

Mit Professor Szyszkowitz stand die Künstlerin bis 1974 in Korrespondenz. 17 Briefe und Karten von ihm an Frau Rappl sind erhalten. Sie fand in ihm einen väterlichen Freund, der größten Anteil an ihrer geistigen und künstlerischen Emanzipation hatte.

Es folgen Ausstellungen 1964 in Salzburg, 1971 in Mülheim-Ruhr in der Katholischen Akademie ‚Die Wolfsburg‘, 1979 in Dinslaken. Letztmalig dokumentiert ist eine Ausstellung 1991 in Kassel, in der Werkstattgalerie. 1966 trat sie in ihre Lehrtätigkeit als Kunsterzieherin an der Mädchenrealschule in Mülheim ein. Sie hat in verschiedenen Schulformen als Kunsterzieherin, Zeichenlehrerin, Kunsttherapeutin gearbeitet, zuletzt an einer Schule für behinderte Kinder und Jugendliche in Düren (Eifel).

Da sich im Nachlaß kaum Belege ihres akademischen oder späteren beruflichen Werdeganges fanden und auch von anderswo keine genaueren Auskünfte zu erhalten waren mußten viele Einzelheiten aus Zeitungsartikeln, Einladungsdrucken zu ihren Ausstellungen oder Einkommensbescheiden des öffentlichen Dienstes rekonstruiert werden. – Hier eine Auswahl der uns vorliegenden Dokumente.

Wie schon für das Biographiefragment des Dichters und Verlagsbuchhändlers Franz Rappl – Violanthes Vater – verdanken wir Frau Hanne Schindler die wertvollsten geschichtlichen und familiären Auskünfte über das Leben Violanthes. Frau Schindler wurde ebenfalls in Donauwörth geboren, am 10.03.1930. Ihr Vater, Gotthard Rappl, war einer von vier Söhnen der Eheleute Carl Rappl und Johanna Dinger, zu denen – neben ihrem Erstgeborenen Franz Rappl – auch Ludwig und Carl jun. Rappl gehörten. Hanne Schindler ist somit Nichte Franz Rappls bzw. Cousine Violanthe – Jola – Rappls, mit der sie eine aus Kindertagen stammende Freundschaft verband. Im Januar 2015 benachrichtigte ich alle auffindbaren Personen aus dem Umfeld Violanthes über ihr Ableben. Lediglich eine einzige Rückantwort erhielt ich – von Frau Schindler. Nach telefonischem Kontakt bot sie mir an, Teile aus ihrer Familienchronik für meine Aufarbeitungen nutzen zu dürfen und mich in allen Fragen zu unterstützen. Wir verdanken ihr nicht nur die Wiederentdeckung des Dichters Franz Rappl, sondern auch wesentliche Beiträge zur Biographie Violanthes, seiner zweitgeborenen Tochter.

In Violanthes Geburtsurkunde und Ausweisen standen stets die Namen ‚Jolanthe Christiane Luise‘ bzw. ‚Jolanthe Christiane‘ Rappl. Von ihren Freunden und Kollegen wurde sie Jola genannt. Da sie mir zu Beginn unserer Freundschaft einmal erklärte, daß ihr eigentlicher Name ‚Violanthe‘ sei, habe ich sie fortan so genannt und verwende im folgenden hauptsächlich diesen Namen.

Aus dem Lateinischen und Englischen ist uns der Begriff violent geläufig – für ‚heftig, gewaltsam‘; in der Musik beschreibt violento eine ‚gewaltsame Vortragsweise‘, im Englischen steht ‚violate‘ für ‚verletzen, verstoßen, schänden‘. Einem Wesen die Bezeichnung zu verleihen, die es am genauesten trifft, ist urinnerstes Bedürfnis jedes künstlerischen Anlasses. So liegen dieser Namenskorrektur, die Violanthe für sich selbst bestimmt hatte, mit großer Wahrscheinlichkeit die Erinnerungen an ihre Kindheit zugrunde, die – nach ihren Berichten – von physischen und psychischen Zwängen geprägt war. Auch die mythologische Bedeutung der Farbe Violett könnte bei der Modifikation ihres Vornamens mitgewirkt haben – Violanthe wußte natürlich, daß dieser Farbe eine transformierende Wirkung zugesprochen wird: Ihre magischen Kräfte können sowohl leidvolle Erfahrungen in geistliche Reife umwandeln als auch die mentale Durchdringung fördern helfen, in Verbindung zu kommen mit den übergeordneten Wesen und Welten unseres Daseins. Violett harmonisiert die weltlichen Gegensätze und verhilft zum Einheitserleben mit allen Kräften des Universums, seinen Erscheinungen und dem Wesen unserer Existenz. Insofern ist Violett immer auch mystisches Symbol und Allegorie der Intuition und Inspiration – und damit nicht zuletzt auch Gleichniszeichen selbst der Kunst und des Bekenntnisses zu künstlerischer Bemeisterung. – Überdies dürfte Violanthe auch bekannt gewesen sein, daß auch Tizians Geliebte Violanthe hieß.

Nach seelischen und körperlichen Kindheitserschütterungen fiel es Violanthe zeit ihres Lebens sehr schwer, sich anderen Menschen furchtlos zu öffnen und ihnen zu vertrauen. Sie blieb ohne Partnerschaft und widmete sich ganz ihrer Kunst und später auch ihrem Garten, der lange als einer der paradiesischsten der ganzen Siedlung galt, in der sie ab 1974 gelebt hatte.

Ende 2012 machte es die dementielle Erkrankung Violanthes nötig, eine amtliche Betreuung für sie einzusetzen. Im Februar 2014 konnte auch ihr Umzug in ein Heim – vor allem aus finanziellen Gründen – nicht mehr abgewendet werden. Bis dahin wurde sie von polnischen Helfern in ihrem Haus liebevoll umsorgt. Nach einem Schlaganfall im Oktober 2014 und kurzem Krankenhausaufenthalt ist sie am 24. Dezember 2014 (um 04:30 Uhr) in der Pflegeeinrichtung, in der sie 11 Monate lang zuwendungsvoll betreut worden war, für immer friedlich eingeschlafen.


Persönliche Beziehung

Diese Biographie bemüht sich, die persönlichen Ereignisse im Lebensgange Violanthe Rappls geschichtlich nachzuzeichnen. Außerdem unternimmt sie den Versuch, ihr künstlerisches Lebenswerk konzeptionell einzuordnen.

Als ihren langjährigen Freund hatte Frau Rappl mich mit der Betreuung, Sicherung und Veröffentlichung ihres künstlerischen Nachlasses betraut. Natürlich lag in diesem Wunsche bereits auch der Anstoß, ein Internetsystem zur Dokumentation und Sicherung künstlerischer Nachlässe und Werkschauen einzurichten und eine Stiftung zu gründen, beauftragt, dieses Archiv zu schützen und zu pflegen. Die daraus entstandene Netzseite www.archiv-swv.de bzw. www.werkvermächtnisse.de darf somit auch als ‚Postproduktion‘ Violanthes angesehen und ihrer Hinterlassenschaft hinzugezählt werden.

Die vorliegende Biographie Frau Rappls, wie auch ihre Bild- und Schriftwerke, mögen Verständnis und Einblick schaffen in das Anliegen der Künstlerin, durch emotionale und geistliche Aufklärung zur allgemein-menschlichen Bewußtseinserweiterung beizutragen und damit das weltgemeinschaftlich-spirituelle Erwachen zu fördern.

In jedem Blick spiegeln sich die Wertauffassungen des Betrachters: ‚Ich höre und sehe nur das, was ich kenne‘, wie es so schön heißt. Da ich mich aus diesem Grund gar nicht erst bemüht habe, eigene Standpunkte und Beurteilungen aus diesen Beschreibungen herauszuhalten, skizziere ich kurz meine Stellung zu Frau Rappl und die Geschichte unserer freundschaftlichen Beziehung:

Etwa 2003 treffe ich ‚zufällig‘ auf die Internetseite Violanthes, durch die sie mit Menschen in Kontakt zu treten hoffte, die sich ihren Visionen zur Weltveränderung anschließen wollen. Weil mich die menschlichen Beweggründe dieses Auftritts berühren, sende ich ihr eine kurze Bestätigung und ermutige sie zur Fortsetzung ihrer Arbeit: Auch ich widmete mich zu dieser Zeit vorwiegend künstlerisch orientierten Beschäftigungen und empfand große Übereinstimmung mit ihren Gedanken. Aus einem losen E-Mail-Verkehr entsteht eine regelmäßige postalische Korrespondenz. 2005 besuche ich sie das erste Mal in ihrem Haus in der Eifel. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie ihre aktive künstlerische Tätigkeit bereits aufgegeben. Neben vielen anderen Gemeinsamkeiten verblüfft uns vor allem die Entdeckung, daß wir am gleichen Tag Geburtstag feiern und daß in ihrer Bibliothek genau jene Werke stehen, die mir in meinem eigenen Bücherschrank zu einer bestimmten thematischen Vollständigkeit noch zu fehlen scheinen.

Inzwischen wird mir immer bewußter, wie drängend mit unserer Begegnung auch die Aufforderung an mich herangetreten ist, Violanthe nicht nur in ihren Bemühungen um Veröffentlichung ihrer Arbeiten zu unterstützen, sondern ihr Werk auch der Zukunft erhalten zu helfen. Obwohl sie die 80 überschritten hatte, planten wir, ihren Bilderzyklus ‚Die klugen und die törichten Jungfrauen‘ in einer Inszenierung mit Musik- und Textvortrag einem breiten Publikum vorzustellen.

Bedauerlicherweise wurden zu dieser Zeit meine eigenen Kräfte von privaten Angelegenheiten plötzlich so stark absorbiert, so daß wir nicht mehr zur Verwirklichung dieser Idee kamen. Zuletzt erschien mir eine filmische Aufbereitung unseres Vorhabens am wirkungsvollsten, wofür ich ein Konzept und einen szenischen Ablaufplan entworfen hatte. Auch von dieser Umsetzung bin ich leider bis heute von anderen immer vordringlicheren Pflichten abgehalten worden.

Violanthes dementielle Erkrankung machte es ihr zunehmend schwerer, sich allein zu versorgen. Da die meisten zu einer verläßlichen Hilfe nötigen Vorkehrungen ohne juristische Legitimation nicht mehr zu organisieren waren, erwirkte ich 2012 die Einsetzung einer amtlichen Betreuung. – Daß dieser Prozeß von wunderbaren Kräften getragen und gelenkt wurde, ist unzweifelhaft: Trotz massiver Widerstände sowohl von privater als auch von behördlicher Seite gelang es, Betreuungsverhältnisse von beinahe idealer Art einzurichten!

 

Kindheit und Lebensthema

Wie die besondere Reinheit und Festigkeit von Edelsteinen durch Formung unter extremen Bedingungen zustande kommt, so erwachte im Herzen des sensitiven Kindes, das sich von den Gewalten einer lieblosen Welt fast zu Tode erdrückt fühlte, das Sendungsbedürfnis und die prophetische Gabe, jene Urwahrheiten, die sich ihm an den Grenzen zur Verzweiflung offenbart hatten, mitteilen und ausdrücken zu wollen. Vertrauen und Liebe zu den heiligen Mächten verliehen Violanthe die mentale und schöpferische Kraft, die kalten, gegen ihre Seele drängenden Marterwände zu sprengen und sich durch künstlerischen Ausdruck von allen Gespenstern und scheußlichen Despoten ihrer Kindheit zu befreien.

Wie oben schon erwähnt, verdanken wir Frau Hanne Schindler wertvolle persönliche Informationen über ihre Cousine und älteste Freundin. Alle ihre Beiträge haben sowohl in dieses Dokument wie auch schon in das Biographiefragment über Franz Rappl – den Vater Violanthes und Onkel Frau Schindlers – Eingang gefunden. Hauptsächlichste Quelle dabei war ihre Familienchronik, die sie uns in Auszügen dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hat. Ein kleiner Abschnitt darin gehört ganz Violanthe zu:

„Aus meiner Familienchronik: 1943-1945, Kriegsende in Günzburg - Unsere Cousine Jola kommt zu uns:

Ab dem Schuljahresbeginn 1943 war unsere Cousine Jola bei uns, ging auch mit uns ins Lyzeum, aber zwei Klassen höher, sie war ja 3 Jahre älter als ich. Sie wohnte bei mir im Zimmer, das ich vorher mit meiner älteren Schwester Gretl geteilt hatte. Gretl hat nach dem Reichsarbeitsdienst in der Oberpfalz eine Ausbildung als Säuglingskrankenschwester in Ulin begonnen und dort in einem Schwesternheim gewohnt. Sie kam nur noch zu Besuch.

Jola hatte, bevor sie zu uns kam, schon viel Schlimmes mitgemacht. Da im Ruhrgebiet, wo sie zu Hause war, furchtbar viele Luftangriffe wüteten, wurden alle Kinder dieser Gegend in weit entfernte Gegenden, die noch verschont waren vom Kriegsgeschehen, verschickt. Das hieß Kinderlandverschickung. Die Kinder wurden also getrennt von ihren Eltern, von der vertrauten Umgebung. Mit Erziehern und Lehrkräften wohnten sie in Massenunterkünften in Böhmen, in der Tschechei, hatten dort Unterricht und waren dort den ganzen Tag zusammen.

Für Jola war dieses Leben in der Masse nicht zu ertragen. Sie hat rausgekriegt, daß bettnässende Kinder zurückgeschickt werden. Beim nächsten Transport in die Heimat war sie dabei. Aber im Ruhrgebiet gab es keinen Schulbetrieb mehr.

Da sprangen meine Eltern ein und holten Jola, die Tochter meines Vaters Bruder, zu uns nach Günzburg. Ich habe mich mit ihr angefreundet, obwohl sie so ganz anders als wir aufgewachsen ist. Ihre Eltern kümmerten sich nicht um sie. Sie hatte die totale Freiheit. In Günzburg war sie sehr überrascht, daß der Tag so durchstrukturiert war und daß wir so selbstverständlich allen Vorschriften folgten.

Später hat sie nur erzählt, daß sie dieses Behütetsein zum ersten Mal bei uns erlebt und es genossen hat. Aber auch bei uns hat sie Massenveranstaltungen gemieden wie die Pest. Wenn wir mit der ganzen Schule zum Ernteeinsatz in die Holedau fuhren, was für uns ein tolles Abenteuer war, hat sie sich krankschreiben lassen und blieb zu Hause.

Auch die Heimabende des Bundes Deutscher Mädel, die verpflichtend waren, hat sie nicht besucht. Mein Vater hat sie deswegen zur Rede gestellt: >Jola, du bringst mich in Teufels Küche, wenn Du nicht teilnimmst.< Sie ging trotzdem nicht hin, obwohl sie meinen Vater respektierte. Mein Vater hat es dann auch so akzeptiert.

Sie hatte einen sehr geliebten Bruder, den Franzl, der wurde mit noch nicht mal ganz 18 Jahren eingezogen. In einem Urlaub kam er noch für ein paar Tage nach Günzburg, um sich von seiner kleinen Schwester und von uns zu verabschieden. Von dort stieg er in den Zug an die Ostfront. Auf dem Weg nach Russland wurde am 11. August 1944 der Truppentransporter beschossen, und das Fränzle hat dabei sein Leben gelassen. Das war meine erste ganz persönliche Berührung mit dem Krieg. Ein großer Schatten, Angst und Trauer hat uns von da an begleitet.“

Außer den Beiträgen Frau Schindlers liegen uns Erklärungen eines Enkels Franz Rappls vor, der nach seinen Angaben zwanzig Jahre im Hause der Familie Rappl gelebt und insbesondere zu Violanthe eine enge Beziehung unterhalten haben will. Diese zumeist dürftigen Informationen sind für unsere Aufarbeitung leider nur bedingt brauchbar: Vor allem besteht der Verdacht, daß persönlicher Grimm sie geleitet und damit verfälscht hat: Die verleumderischen Anschuldigungen, die von diesem Menschen gegen mich sogar vor einem Gericht erhoben wurden, nötigen mich bedauerlicherweise, von einer prinzipiellen Unredlichkeit dieser Person im Umgang mit anderen und den tatsächlichen Ereignissen auszugehen. Nichtsdestotrotz werden wir auch diese Anmerkungen Dritter einfügen.

Als interessantesten Hinweis von dieser Seite werten wir die These von der autistischen Veranlagung Violanthes. Auch wenn wir, wie gesagt, Gründe haben, die volle Glaubwürdigkeit der uns durch diese dritte Person vorgetragenen Informationen anzuzweifeln, so streuen zuletzt sogar persönlich verbrämte Einwendungen immer auch Anteile vom Salz der Wirklichkeit in unsere Anschauungen mit ein und bereichern die bestehenden Aussagen, so daß sie nun jeder selbst nach seinem ‚Geschmack‘ – seinem eigenen höheren Einsichts- und Erkenntnisvermögen – überprüfen und ausdeuten kann. – Wir jedenfalls bemühen uns, alle Beiträge im Sinne einer möglichst wahrheitstreuen Rekonstruktion der Ereignisse angemessen zu behandeln:

Der Gedanke, Violanthes höchst eigenwilliges Verhalten gründe in einer autistischen Störung, kam mir selber nie in den Sinn – obgleich auch ich ihre Einkapselung und oft abstrakte Weltanschauung als eines der sie bestimmenden Persönlichkeitsmerkmale bezeichnen würde. Vermutlich aber konnte in mir ein derartiger Verdacht deswegen nicht keimen, da ich Aspekte einer solchen ‚Persönlichkeitsstörung‘ in mir selber zu finden wüßte – und mir daher das Verhalten Violanthes stets als vertraut oder ‚vernünftig‘ vorkam. Zweifel auch an dieser von Dritten vorgebrachten These – zumindest in ihrer Absolutheit – sind wiederum berechtigt: Spricht man beim Autismus von einer ‚psychotischen meist schizophrenen Persönlichkeitsstörung, die durch extreme Selbstbezogenheit und Insichgekehrtheit sowie durch phantastisch-traumhaftes, affektiv-impulsives Denken gekennzeichnet ist‘, so träfe lediglich dieser letzte Teil der Definition auf Violanthe zu. Sie war gewiß ein in sich gekehrter Typ, hatte dabei aber ihr übergroßes Herz stets weit geöffnet für die Verzweiflung in der Welt und hielt ihren mitgefühlvollen Blick auf diese ihr niemals gleichgültigen Verhältnisse und Wesen gerichtet! – Ihr Werk gibt beredtes Zeugnis davon! – Nein: Von einer pathologischen Selbstbezogenheit oder gar ‚schizophrenen‘ Veranlagung kann, nach meiner Einschätzung, keine Rede sein. Wenn ich ‚auffällige und ungewöhnliche‘ Merkmale bei ihr nennen sollte, so würde ich von übersteigerten Denk- und Empfindungsvorgängen sprechen – für mich jedoch eher Zeichen von höherer ‚Gesundheit‘… Allerdings finden sich im Verhalten und in der Biographie Violanthes auch zwei Elemente wieder, die man zu den Symptomen autistischer Veranlagung zählt: ‚Eigene Gedanken werden als >Stimmen< gehört‘ und die Betroffenen sind oft ‚unfähig, emotionale Beziehungen zu anderen Menschen aufnehmen zu können‘… Man kann dieserart Besonderheiten gern zu den ‚autistischen Verhaltensweisen‘ rechnen, sofern man zugleich anerkennt, daß es sich dann um eine beginnende Volkskrankheit handeln müßte – angesichts der stetig wachsenden Singlehaushalte. Außerdem widerlegen sowohl unsere Freundschaft als auch ihre innigen Beziehungen zu unseren polnischen Hilfskräften zumindest die pathologische Variante eines solchen zwischenmenschlichen Defekts. Und dem, der ‚seine Gedanken‘ nicht als ‚Stimmen aus dem Inneren‘ wahrnimmt, fehlt vielleicht sogar ein wesentliches Instrument, im ‚Einklang‘ oder in ‚Verständigung‘ mit der Welt zu stehen…

Wir fügen einige Stichpunkte zur Beschreibung der ‚Kernsymptomatik autistischer Behinderungen‘ (Klassifikation nach ICD-10 der WHO: F84.0 bis F84.9) aus der Fachliteratur an: Als vorrangig genannt werden hier Störungen der sozialen Interaktion, verbunden mit kommunikativen Schwierigkeiten. (!) Auch sei die Fähigkeit zu kognitiver Empathie (Einfühlungsvermögen) eingeschränkt oder gar nicht vorhanden. (!) Dagegen wäre aber die affektive Empathie (Mitgefühl) stärker ausgeprägt als bei nicht-autistischen Personen. (?) Alle diese Zuschreibungen sind pathologisch konnotiert. Zugleich aber (!) werden dem ‚Autisten‘ oder Betroffenen des Asperger-Syndroms (teilweise, auch) überdurchschnittliche Qualifikationen attestiert. So läßt sich z. B. gerade unter dieser Personengruppe eine auffällig höhere Intelligenz nachweisen. Dieses Phänomen hat die ‚Autistin‘ Michelle Dawson veranlaßt, die autistische – bzw. dabei vorherrschende besondere Art – Intelligenz zu erforschen. (Vgl.: ‚Neurodiversität‘.) Im Falle Violanthes – als der Künstlerin – muß diesem Gesichtspunkt besondere Beachtung geschenkt werden: Nicht nur erklärte sich von dort her ihre ‚höhere oft intensivere auditive, visuelle, emotionale Wahrnehmung‘ (sogenannter Muschel- oder Igelkinder‘), sondern auch die gerade ihr (und ihnen!) notwendige ‚Abschaltfunktion im Gehirn‘, sich vor ‚Reizüberflutung‘ oder unbeherrschbaren emotionalen Konflikten zu schützen. Hier dürfen Verdrängung, Aussperrung, Abweisung nicht mehr als Provokation, als Sturheit, als Unhöflichkeit oder gar als Unehrlichkeit mißdeutet werden. Hier handelt es sich um eine ‚Selbstschutzfunktion‘, die das Schweigen zu einem Konzept erhebt – eine alles beherrschende Überempfindlichkeit zu kompensieren. Insbesondere bei Künstlern oder ‚Inselbegabten‘ wäre es ein Leichtes, ‚autistische‘ oder andere ‚ungewöhnliche‘ psychische Phänomene zu diagnostizieren: Die ‚Einschränkungen‘ auf einem Gebiet ihrer Persönlichkeit korrelieren oft mit ihren speziellen und ungewöhnlichen Fähigkeiten auf einem anderen. Ja, vielleicht sogar ist Künstlerschaft ohne autistische Anteile in den schöpferischen Charakteren gar nicht denkbar ...

Die Symptome, die der Krankheitsbezeichnung ‚Autismus‘ zugeordnet werden, helfen uns, das hochsensible Wesen Violanthes, insbesondere in seinen ‚unerklärlichen‘ und oft auch ‚widersprüchlichen‘ Verhaltensweisen besser zu verstehen. Wir erinnern, daß Hochsensibilität inzwischen als anerkannter Problemkreis gilt: Wer mit solchen Menschen zu tun hat, muß sich darüber belehren lassen, daß ihre Reaktionen oft und lediglich Schutzreflexe sind – gegen die unerträglichen Angriffe, als die sie den ‚normalen Alttag‘ empfinden. – Wer ist jetzt ‚krank‘? Das empfindsame Wesen oder der Stumpfe, der sich seiner verrohenden Umgangsformen nicht mehr bewußt ist?! – Die eigenwillige Art und Weise mit der Violanthe ihre Umwelt wahrnahm und sie behandelte, darf vor allem als Ausdruck ihrer besonderen menschlich-künstlerischen Genialität verstanden und interpretiert werden – und nicht als ‚pathologische‘ Fehlleistung. Wenn erst gewisse Persönlichkeitsanteile den Menschen zum Künstler berufen, dann können diese nicht ‚in Frage stehen‘, sondern müssen vielmehr als ‚Begabung‘ betrachtet werden, den hochkomplexen Anforderungen an Körper und Seele, mit denen der Künstler umzugehen hat, auf ‚originäre Art und Weise‘ auch gewachsen zu sein. Diese psychische Veranlagung ist wesentlicher Teil einer Persönlichkeitsstruktur und verhält sich zu den Daseinsbedingungen wie die Instrumente, um diese Lebens-Gegenstände zu bearbeiten – oder wie der Aszendent zum Sternzeichen: Dieses gibt Zustand und Grundthema vor, jener dagegen die Art und Weise, ihnen zu begegnen, sie zu meistern, zu erlösen – oder zu verdrängen, ihnen auszuweichen. Insofern handelt es sich bei den uns (angeborenen, vererbten) Persönlichkeitsmerkmalen um ‚technologische Bedienfelder‘, durch die alle Objekte oder Gebilde ihre Spezifik (für uns einzelnen Menschen) erhalten – und infolgedessen von uns ‚individuell‘ behandelt werden. Weil aber innere wie äußere Konstitutionen aufeinander ein- und zurückwirken, kann man unmöglich ‚die eine vorherrschende Ursache‘ bestimmen, die uns entweder befähigt, Situationen oder Verhältnisse zu beherrschen, oder aber eine Eskalation innerer Zustände herbeiführt. Zumal in Auseinandersetzung mit den mächtigen Beträgen und Begriffen der Kunst: Gerade unter ihren Forderungen entwickeln sich menschliche Eigenheiten oft exponentiell, da die Bewältigung künstlerischer Anliegen ohne Verstärkung und Expansion aller den Künstler kennzeichnenden ‚eigenartigen‘ Aspekte – zum Zweck der Erhöhung der Konsistenz seines künstlerischen Ausdrucks – kaum denkbar wäre. Jede künstlerische Tätigkeit provoziert zur Radikalisierung der allgemeinsten Fragen des Lebens und zwingt zu immer intensiverer Auseinandersetzung mit sich selbst, wodurch sich für die unvorhersagbaren Rückwirkungen ebenso viele positive Optionen ergeben.

Und zuletzt noch dieser Hinweis in Bezug auf das Sternzeichen und den Aszendenten Violanthes – und als weiteres Indiz dafür, wie differenziert wir mit einseitig-erklärenden Konzepten für ihr Verhalten umzugehen haben: Geboren im Sternzeichen der Jungfrau mit Aszendent Jungfrau ist ihr Vernunft wie Gefühl in ‚doppelter Dosis‘ mitgegeben. Und diese Gaben decken sich mit den Fähigkeiten, die sie nach meiner Erfahrung ausgezeichnet haben: einem ausgeprägten Wahrheitsinstinkt, einer klaren Weltsicht, einem hohen Harmoniebedürfnis, starkem Selbstvertrauen und kritischem Tiefgang in allen gesellschaftlichen Fragen. In Horoskopen wird unter dieser Konstellation gern auf die zu hochgesteckten Ansprüche hinsichtlich der Partnerwahl hingewiesen: ‚Man möchte sich nur mit dem Höchstmaß zufriedengeben, was bis zur stetigen Partnerlosigkeit führen kann‘...

Höchste Empfänglichkeit, Empfindlichkeit, Verletzbarkeit haben das Wesen Violanthes bestimmt. Ihre psychische Struktur nährte sich von diesem toxischen Grund tief erschütterbarer Verfassung – und erfand rettende Wehren. Vielleicht sind auch darum ihre Erinnerungen und Berichte über ihre Kindheit, wie begütert und geborgen sie tatsächlich auch gewesen sein mag, stets anklagend geblieben? In ihrem Herzen jedenfalls steckte lebenslänglich das ungestillte Bedürfnis nach elterlicher Zuneigung fest – und blieb ihr Qual und Quelle der Auseinandersetzung mit allen menschlichen Leidensthemen.

Kein Wunder also, daß sie sehr früh eine nie wieder versiegende und intensiv gepflegte Beziehung zu den übergeordneten Kräften des Universums knüpft. Aus der inneren Präsenz einer Wirklichkeit jenseits alles Äußeren, aller grauenvollen Erlebnisse, stiegen ihr magische Bilder und Zeichen ihrer Bestimmung auf: Mit den Mitteln der Kunst Menschen anrühren, sie aufrütteln und ermutigen zu wollen, sich ihrer wahren Absichten und Aufgaben bewußt zu werden und so dem entsetzlichen physischen und psychischen Kriegstreiben gegen sich selbst, gegen andere und unsere Mutter Erde ein Ende zu setzen. Dazu jedoch wäre ein neues Bewußtsein nötig – damit der Mensch endlich werden dürfe, was er in Wahrheit ist... Und so rücken alle diese tausendfach scheinheilig beschworenen und niemals wirklich ernst gemeinten oder bis an ihre wahren Ursachen verfolgten großen Fragen in den Milliarden verzweifelten Menschenherzen in das Zentrum ihres ganzen Denkens und Empfindens: ‚Wie gelänge es nur, die Gier, die Machtbesessenheit unter den Einzelwesen und feindseligen Gruppen, die zwischenmenschlichen und globalen Gewaltakte, unser getriebenes Dasein, alle Laster und Illusionen, mit denen wir uns zuletzt noch in vermeintliche Asyle zu retten können glauben – – – wie nur könnten wir uns dieser armseligen Zustände, der erbärmlichen Zwänge und Lügen, unserer mickrigen Angst und Dummheit erwehren und alle unsere übrigen Sünden gegen die heiligen Wunder dieser grandiosen Schöpfung erlösen?!‘

In den 50 Jahren, in denen sich Violanthe ihrer künstlerischen Tätigkeit widmete, schuf sie ungefähr 50 herausragende epische Gemälde, von denen nach meinen Maßstäben einige ebenbürtig neben anderen Werken der Weltkunst stehen dürften. Hinzu kommen etwa 400 oft ebenfalls metaphorische Bildnisse, Aquarell- und Acrylmalereien, Linolschnitte, Bunt-, Bleistift-, Kohle- und Tuschezeichnungen. Darüber hinaus fertigte sie zahlreiche Keramiken an, mehrere kleinere menschliche Plastiken, einige szenische Konstruktionen und drei auf eigene Kosten publizierte Schriften. – Auf der Internetseite www.archiv-swv.de sind sowohl alle ihre Bildnisse zu betrachten wie auch ihre Schriften verfügbar. Drei weitere noch unveröffentlichte kürzere Texte fanden sich in ihrem Nachlaß und werden demnächst ebenfalls dort zugänglich sein.

Die eindrucksvollsten Werke der Künstlerin bringen ihre Erschütterung über das Versagen des Menschen zum Ausdruck, das Wunder des Lebens in seinem phantastischen Reichtum wahrnehmen und entsprechend achten und vermehren zu können. Sie hinterfragen das Verhältnis des Menschen zur Natur, setzen sich mit seinen zwischen- und innermenschlichen Konflikten auseinander und klagen seine tragische Entfremdung von der Liebe zwischen allen lebendigen Geschöpfen an – die ihn unfähig gemacht hat, sich als unauflösliche Einheit eines magisch-numinosen Daseins begreifen und einander mitgefühlvoll begegnen zu können…

Ein anderer großer Teil ihrer Arbeiten widmet sich natürlichen Sujets wie Akt- und Porträtstudien, Landschafts- und Blumenmalereien. Bestechend in den figurativen Darstellungen und Traumkompositionen die große philosophische Ausdruckskraft, die von diesen Bildnissen ausstrahlt: Wer in ihnen zu lesen weiß, dem bieten sie Verständnis und Linderung seiner Verletzung – sowie Erinnerung an seine wahre Unverletzlichkeit.

 

Prüfungen und Hilfen

Mehrmals im Leben Violanthes versagt ihr der Körper seinen Dienst: zuerst in Kindertagen, als sie vor Schmerzen und innerer Qual lange Zeit nicht mehr gehen und stehen konnte. Dann in späteren Jahren, in denen sie langwierige Therapien über sich ergehen lassen mußte und, wie sie mir erzählte, wiederholt an den Rollstuhl gefesselt war.

Aus einem Brief von Rudolf Szyszkowitz an sie geht hervor, daß es einen erneuten Einbruch in den 70er Jahren kurz nach dem Tod ihrer Mutter gegeben haben muß. Doch auch noch, als sie bereits in ihrem Haus in der Eifel lebte, ist sie von Phasen schwerer Einschränkung und Hilfsbedürftigkeit heimgesucht worden. Es liegen ärztliche Belege über arthrotische Veränderungen an den Beinen und im Hüftbereich vor. Zeitweilig mußte sie ein Korsett mit einer massiven Einlage zur Stützung der Wirbelsäule tragen, ein anderes Mal sich eingipsen und kopfüber aufhängen lassen – es drängen sich Erinnerungen an das Leben der mexikanischen Malerin Frida Kahlo (1907-1954) auf.

Oft sind es ja diese dunklen und vermeintlich unannehmbaren Einfälle des Lebens, die uns endlich in den so lange vermiedenen Konflikt mit den Anforderungen zu unserer eigenen Erlösung zwingen, und damit auch die besonderen Kräfte des Widerstands oder der Meisterschaft freisetzen, diese innersten Unterweisungen auch annehmen und erfüllen zu können. Und vielleicht wurden die psychischen und physischen Schädigungen, die Violanthe als Kind erlitten und nun allmählich aufzuarbeiten begonnen hatte, in den späteren Zusammenbrüchen wieder aktiviert.

Trotz aller Rückschläge schöpfte sie immer wieder aus dem Kraftbereich der lichten Sphäre des Geistes und lehnte sich entschlossen gegen ein scheinbares Schicksal auf: Sie praktizierte das autogene Training, wodurch sie nicht nur ihre körperlichen Beschwerden zu beherrschen, sondern auch mental sich soweit zu stabilisieren lernte, dem allgemeinen Alltags- und Lebensprozeß wie auch der weiteren Aufarbeitung ihrer Kindheitstraumen dauerhaft gewachsen zu sein. Erst spät hat sie ihre ausgeprägte Grundangst und das sie beherrschende Mißtrauen gegen jede engere menschliche Kontaktnahme anhaltend überwunden. Lebenslang von Schmerzen in den Beinen und der Hüfte geplagt, erhebt sie sich tapfer über diese Beeinträchtigungen und findet immer sicherer zu ihrem besonderen von Weisheit, innerem Wissen und Würde getragenen schöpferisch-erfüllten Leben.

Freilich kamen ihr dazu von ganz irdischer Seite Hilfen entgegen, ohne die ihr Lebensweg gewiß anders verlaufen wäre, womöglich ähnlich trost- und chancenlos, wie der vieler anderer Menschen unter vergleichbaren Anfangsbedingungen.

Gerade heute morgen begrüßt mich mein elektronisches Sprichwörterlexikon mit dieser einfachen wie genialen Sentenz unseres berühmten deutschen Dichters und Naturwissenschaftlers Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799): „Die Menschen sind in ihren Anlagen alle gleich, nur die Verhältnisse machen den Unterschied.“

Zu einem solchen entscheidenden Unterschied wurde die bessere Seite Violanthes Herkunft: ein bedeutender und wohlhabender Großvater und Urgroßvater, deren beider Anteilseignerschaften an einem großen Unternehmen nach ihrem und dem Tode ihrer Mutter weiter an Violanthe übergingen und ihr damit zu finanziellem Spielraum verhalfen. Aufgrund ihrer Erkrankung erhielt sie relativ früh eine Rente. Mit der nun gewonnenen beruflichen Freiheit und materiellen Unabhängigkeit setzte ihre bedeutendste Schaffensperiode ein: 1982 läßt sie an das Häuschen, das sie auf dem 1973 erworbenen Grundstück hatte errichten lassen, ein Atelier anbauen. Dorthin zieht sie sich ‚hauptberuflich‘ zurück und widmet sich viele Jahre ausschließlich der künstlerischen Aufarbeitung ihrer Lebensthematik.

1994 erscheint ihr erstes Büchlein, 1998 und 2001 folgen zwei weitere teilweise autobiographische, teilweise visionäre Schriften, die sie privat drucken läßt. Zugleich entstehen Installationen, Keramiken und viele Bilder. Sie ist 73 Jahre alt, als sie um die Jahrtausendwende auch ihren großen Gemälde- und Textzyklus „Von den klugen und den törichten Jungfrauen“ vollendet.

Vollendet hatte sich damit auch ihr kreativ-gestalterisches Lebens- und Alterswerk: 28 Gemälde mit den ihnen zugehörigen Bild- und Seelenzustandsbeschreibungen. Nach Abschluß dieser Arbeit, die ihre ideelle, handwerkliche und spirituelle Lebensmeisterschaft krönt, malt sie kein weiteres Bild und verfaßt auch keinen kulturkritischen Text mehr.

Anfang 2011 nehme ich die Veränderungen in den mentalen Fähigkeiten Violanthes das erste Mal wahr. Aufgrund des Fortschreitens ihrer Demenzerkrankung wird Ende 2012 eine amtliche Betreuungshilfe notwendig. Es gelingt, eine annähernd ideale Versorgung einzurichten, so daß sie bis zum Frühjahr 2014 weitestgehend selbständig in ihrem Haus wohnen bleiben kann.

 

Familiäre Herkunft

1899 gründete ihr Urgroßvater, Heinrich Schwarz, mit bescheidenen, teils eigenen, teils fremden Mitteln die später weltberühmte Ruhrthaler Maschinenfabrik. Wenige Wochen nach Gründung übertrug er seinen Grundbesitz an der Scheffelstraße in Mülheim a. d. Ruhr auf die Firma. Fast 100 Jahre lang wurden dort Kleinlokomotiven für den Bergbau und später auch Zugmaschinen für Hafen- und Werksbahnen konstruiert und gebaut. In Kopie liegen mir noch die Übertragungsurkunde vom 08.09.1899 sowie spätere amtsgerichtliche Auszüge und Bilanzen vor, auf denen die folgende kurze industrie- und familiengeschichtliche Einlassung beruht. Auch die Maschinenbauingenieure Jens Merte und Martin Schiffmann haben über diese „100 Jahre Ruhrthaler Maschinenfabrik“, ihre Geschichte und Werkstätigkeit, eine ausgezeichnete Bild- und Schriftdokumentation auf CD-ROM erstellt, die jedoch (2018) nur noch hier zu bestellen wäre, nachdem der ‚Lockrundschau Verlag Gülzow‘, der diese Dokumentation ursprünglich herausbrachte, offensichtlich nicht mehr existiert. (Würden uns Herr Merte und Herr Schiffmann die Erlaubnis dazu erteilen, so könnten wir die CD hier zugänglich machen.)

Ende der 1920er Jahre war die Ruhrthaler Maschinenfabrik Weltmarktführer für Spezial- und Grubenlokomotiven und beschäftigte 250 Mitarbeiter. Nach dem Zweiten Weltkrieg eroberte allmählich die Lkw-Konkurrenz den Markt. 1997 wurde für den Mülheimer Stammsitz das Konkursverfahren eingeleitet.

1904 tritt der Sohn Heinrichs, Wilhelm Schwarz, in das Geschäft ein. 1909 beteiligt sich auch Carl Dyckerhoff aus Bonn am Unternehmen. Fortan firmiert es als ‚Ruhrthaler Maschinenfabrik Schwarz & Dyckerhoff GmbH‘. Vater Heinrich gibt die Geschäftsführung 1918 an seinen Sohn Wilhelm und Ernst Dyckerhoff, Sohn von Carl Dyckerhoff, ab. Heinrich Schwarz, der Begründer der Ruhrthaler Maschinenfabrik, stirbt am 18.02.1924; sein Sohn Wilhelm am 09.09.1967. Carl Dyckerhoff stirbt 97jährig am 21.03.1941, nachdem er die Firma bis zuletzt mit klugem Rat begleitet hatte. Wann sein Sohn Ernst gestorben ist, konnte nicht ermittelt werden. (Die Mülheimer Dyckerhoffs gehören nicht in die Linie des großen Zementfabrikanten Wilhelm Gustav Dyckerhoff.)

Aus der Ehe von Wilhelm Schwarz mit Margarete Schwarz, geb. Birkmann, gehen zwei Töchter hervor: Ilse und Erika. Erika heiratet – vermutlich in den späten 20er Jahren – den vielseitigen deutschen Ingenieur und Konstrukteur Erich Bachem (1906-1960). Nach dessen Rückkehr aus Argentinien tritt er 1952 in die Firma seines Schwiegervaters ein und wird technischer Direktor der Ruhrthaler Maschinenfabrik. Diese Position hatte er bis zu seinem Tode inne.

Ilse Katharina Schwarz, geboren am 28.05.1901, gestorben am 27.03.1969, heiratet am 21.11.1922 den Lyriker, Erzähler und Verlagsbuchhändler Franz Josef Rappl, geboren am 02.01.1894, gestorben am 17.11.1970. Er hatte zu diesem Zeitpunkt mindestens bereits vier der insgesamt von ihm bekannten sieben literarischen und politischen Werke veröffentlicht. – Auf unserer Netzseite www.archiv-swv.de finden sich neben einem biographischen Fragment über Franz Rappl auch seine Schriften, soweit sie derzeit verfügbar sind. – In diese Biographie Violanthes haben wir Aspekte seines Lebens nur dort eingefügt, wo sie zum Verständnis der Entwicklung und Schaffenshintergründe seiner Tochter zwingend erforderlich waren.

Aus der Ehe zwischen Ilse Katharina und Franz Joseph Rappl gehen ein Sohn, Fränzle, geboren 1925, und zwei Töchter hervor: Ruth (später: Ruth Blumers), geboren am 02.11.1923 und Violanthe Christiane Luise, geboren am 06.09.1927.

Erst aus der Familienchronik Frau Schindlers erfuhr ich genaueres über Violanthes Bruder Fränzle; bis dahin hatte Violanthe mir nur ausweichende Antworten auf meine Fragen über ihn gegeben: Fränzle wurde 1942 als Soldat eingezogen. Um sich von seiner Schwester zu verabschieden, kam er nach Günzburg, wo Violanthe bei ihrer Patentante – der Mutter Frau Schindlers – untergekommen war: „Im Krieg, als das Ruhrgebiet schon völlig zerbombt war, alle Schulen geschlossen waren und die Kinder von dort in einer Riesenaktion, die sich Kinderlandverschickung nannte, nach Böhmen in Kinderheime gebracht worden waren, nahmen meine Eltern Jola ganz zu uns. Sie ging mit uns zur Schule. Jola und ich hatten ein Zimmer zusammen und wir freundeten uns sehr an. Fränzle kam zu uns um Abschied zu nehmen von Jola. Schon auf der Fahrt an die Front wurde der Zug beschossen und er kam dabei ums Leben, gerade mal 17 Jahre alt.“

Nach Angaben Dritter soll Fränzle – Franz Rappl junior – am 11.08.1944 gefallen sein.

War Violanthe überhaupt zu bewegen, über ihren Bruder zu sprechen, so spürte man stets, wie sehr sie ihn geliebt und wie gerade er sie unter den für sie unerträglichen Familienverhältnissen immer wieder verteidigt, geschützt und verstanden haben muß. Bis in ihre letzten klarsichtigen Momente hinein hat sie von seinem frühen Tod äußerst ungern und dann nur voller Trauer gesprochen.

Die persönlichsten Informationen über Violanthes Kindheit und erste Jugendjahre verdanken wir der Geschichte Christines in ihrem Büchlein „Walze contra Himmelreich“. Gerade die unverfälschte Schlichtheit, mit der sie dort ihre Erlebnisse schildert, machen diese Seiten zu einem beseelten und oft sogar zeitgeschichtlichen Dokument. Selten haben mich autobiographische Einblicke ehrlicher ergriffen. Nebenbei offenbaren diese Schilderungen auch im Umgang mit dem Wort eine der faszinierendsten Fähigkeiten der Künstlerin, wie sie uns später in der Analyse ihrer bildnerischen Techniken wiederbegegnen wird: durch scheinbar abstrakte, manchmal wie eklektisch hingeworfene ‚einfältige‘ Gestaltungselemente einen ganz bestimmten emotionalen Reflex beim Betrachter oder Leser auslösen und als lebenswahren Ausdruck ihrer Beobachtung auf ihn übertragen zu können.

Solange ich Violanthe kannte, hat sie das Verhältnis zu ihren Eltern immer als problematisch, um nicht zu sagen: als unerträglich beschrieben. In ihren Berichten über ihre Kindheit standen stets die Lieblosigkeit und Beziehungsunfähigkeit ihrer Eltern und deren Verhaftung in physischen und psychischen Zwängen im Vordergrund. Als ich später von Frau Schindler erfuhr, daß Violanthes Mutter Klavier spielte, Musik studierte und Französisch sprach, und nachdem ich die Schriften ihres Vaters, Franz Rappl, gelesen hatte, tat sich mir ein gewaltiger Widerspruch zwischen den Darstellungen Violanthes und der tiefen Bewunderung auf, die ich nur schon dem lyrischen Bilderreichtum der Werke Franz Rappls entgegenbringen mochte.

Diese bis dahin unschlüssigen Berichte Violanthes über die ‚Lieblosigkeit und Beziehungsunfähigkeit‘ ihrer Eltern konnten erst durch eingehende Aufarbeitung der Lebensgeschichte Franz Rappls aufgeklärt werden, zu der Frau Schindler entscheidende Beiträge geleistet hat. Der Gegensatz zwischen den Darstellungen Violanthes und den Persönlichkeiten und Leistungen ihrer Eltern gipfelte zuletzt in dem Phänomen, daß sie nicht nur mir, sondern auch ihrer ältesten und wichtigsten Freundin, Hanne Schindler, grundsätzlich keine oder nur belanglose oder ausweichende Antworten über das Leben und Werk ihres Vaters und ihrer Mutter zukommen ließ. Warum sie das in dieser Konsequenz getan hat, provozierte mich zu einer genaueren Untersuchung dieser Frage. Antworten darauf haben wir ausführlich im biographischen Fragment über Franz Rappl zu geben versucht. Hier gelangen Sie direkt an den Anfang dieser Betrachtungen; der Geschlossenheit wegen fügen wir im folgenden lediglich eine Kurzform dieser Erläuterungen an; sie bleiben ohne tiefere Einsicht und Einfühlung in die Seelenzustände und Schaffensverhältnisse eines Künstlers allerdings nur schwer nachvollziehbar:

Künstlerische Schöpfung wird von äußerst komplexen – für die meisten Menschen unerträglich konfliktreichen – Prozessen begleitet. Diese psychischen und physischen Lasten und Widerstände auszubalancieren bedarf es höchsten Einsatzes, vollster Konzentration, bedingungsloser Hingabe – an das Werk. Im Falle Violanthes traten zu diesen schöpferischen Bedrängnissen noch persönliche Belastungen in Form elterlicher Konflikte hinzu: In beiden Elternteilen, beide mit ausgeprägten exzentrischen Charakteren, die vielleicht sogar erst Voraussetzung zur Künstlerschaft sein mögen, kämpften auf nämliche Weise die gleichen schaffenden, anspruchsvollen Ideen um Verwirklichung. Die Ablehnung und Ignoranz der Zeitgenossen tat ein übriges, die eheliche Situation weiter zu verschlechtern. Folge war die Vernachlässigung in den erzieherischen Aspekten: Violanthe klagte vor allem über den Mangel an liebevoller Zuwendung, die sie von ihren Eltern so schmerzhaft vermißte – und hat diese von ihr so empfundene Tragödie auch zu einem zentralen Thema ihrer Arbeiten erhoben. Und sie teilte das Schicksal ihres Vaters in umfänglichem Sinne: Sie tat es ihm gleich – erlitt die gleiche Ohnmacht und Interesselosigkeit, sowohl durch Krankheit als auch durch fehlende Resonanz, als Künstlerin wie als Frau. Sie tat es ihm gleich: vom inneren Ruf zur Bildnerin bis zur Verweigerung der Käuflichkeit. Die Rebellennatur des wesentlichen Menschen muß sich jeder Opportunität, jeder Unfreiheit und Korruption versagen, sie kann nicht anders, alles andere hieße Verrat an sich selbst, am Werk, am Leben. Das rechtschaffene Talent, der Gestalter aus dem Herzen, sie erschaffen im Hintergrund, unfähig, Popularität, Marktwert, öffentliche Stellung an sich zu ziehen, auf sie abzuzielen. Nur dem Gedanken der menschheitlichen Entwicklung und Befreiung, ihrer künstlerischen oder sozialen Mission fühlen sie sich verpflichtet, nur ihnen können und mögen sie dienen. Wahre Meisterschaft ist unfähig zu Ausstellung und Vermarktung, denn damit verließe sie den Boden ihrer Einzigartigkeit, des Wesens ihrer Könnerschaft – sie erstürbe förmlich an der Abgabe eines Teils ihres Interesses ausschließlich auf die höchste Gestaltkraft ihres Werkes. – Vor diesen wiederholten Demütigungen ihren Vater zu schützen, gerade so, wie sie sich selbst zu schützen hatte vor der Ignoranz der Welt gegenüber ihrer Person und Arbeit, diese Vorkehrung zu treffen, verwehrte Violanthe sich und der Welt mehr und mehr den Einblick in das eigene wie in das Werk und Wesen auch ihres Vaters. Und bald ist sie – aus den genannten typischen Selbstzweifeln aller begnadeten Bildner – tatsächlich auch nicht mehr voll überzeugt, ob die unbedingte Hingabe an ihr eigenes Schaffen, genauso wie die ihres Vaters an das seine, bestehen kann vor den Augen einer zukünftigen Welt. In dieser aufrichtigen, zutiefst menschlichen Skepsis dem eigenen Ehrgeiz gegenüber liegt vermutlich der Grund, daß auch ihrem Werk so gut wie jede öffentliche Wahrnehmung fehlt; es wäre ihr peinlich gewesen, sich in den Vordergrund zu drängen, um mediale Aufmerksamkeit zu buhlen – so, wie man als ‚angesehener Künstler‘ stets doch darauf bedacht sein und sich verkaufen können muß, mindestens aber die Mechanismen dieser Vermarktungszwänge stillschweigend zu billigen und anzuerkennen hat. Wie viele Generationen wird es noch brauchen, bis das neue Bewußtsein, das sie und ihr Vater anzuregen versuchten, erwachen und zum Ausdruck kommen wird in lebendiger, alltäglicher Physis?! Genügen ihre und die Ansprüche ihres Vaters wirklich dem EINEN, der allem SEINE EWIGKEIT verleiht?! – Diese Fragen kreisen in Violanthes Herzen und Verstand – und sie bleibt mit ihnen allein – und hat sich selbst und ihrem Vater jede weitere Entwürdigung und Entweihung unterdessen zu ersparen!

Wie hier und auch schon im biographischen Fragment über Franz Rappl erklärt, verfügen wir über Darstellungen Dritter, die von den Erinnerungen Frau Schindlers und den von Violanthe mir gegenüber persönlich vorgetragenen Erzählungen stark abweichen. Durch gewisse psychologische Deutungsversuche haben wir hier wie dort bereits versucht, die Kluft dieser Gegensätze zumindest etwas begehbarer zu machen. Nichtsdestotrotz wollen wir anerkennen, daß sich mit den fremden Gesichtspunkten auch die Widersprüche in den Lebensverhältnissen der Familie Rappl – und dort insbesondere zwischen Vater und Tochter – verhärtet haben, die zwischen Überliefertem, persönlich Erlebtem und von Dritten Erinnertem bestehen. Sind die Angaben bestimmter Personen auch mit Vorsicht zu behandeln, so bestätigen sie im wesentlichen jedoch das Phänomen und Gefühl: daß viele der von Violanthe persönlich beigesteuerten Erklärungen metaphorisch begriffen und interpretiert werden müssen, in übertragenem Sinne also, zu einem allgemeingültigen Thema transzendiert – als Gegenentwurf zum Maßstab ihrer eigenen hochsensiblen und zugleich eingeschränkten Wahrnehmungswelt…

Im Kern verneinen die vorgebrachten Einlassungen dabei hauptsächlich die bisherige Annahme, sowohl Franz als auch Violanthe Rappl hätten in ihrem Leben vielseitige Belastungen bewältigen müssen. So wird im Gegenteil dort behauptet, daß weder Franz vom Leben besonders zurückgewiesen oder je von Mittellosigkeit bedroht worden wäre, noch daß Violanthe eine sorgenbeschwerte Kindheit gehabt hätte. Da wir unsere Bemühungen, Licht in die Lebensumstände der Familie Rappl zu bringen, allein auf die Darstellungen Violanthes selbst und die Einlassungen entfernter Verwandter stützen können – und sich daher auch die ‚Lücke zur Wahrheit‘ niemals vollständig wird schließen lassen –, haben wir uns entschieden, allen verfügbaren Beiträgen unsere eigenen Reflexionen neutral gegenüberzustellen. Die ‚Wahrheit‘ kann sowieso nur im Herzen der Leser aufleuchten – und am ehesten noch durch Studium und Betrachtung der Werke der beiden besonderen Künstlerpersönlichkeiten, denen wir unsere Aufarbeitungen widmen.

Ist der Mensch einmal ganz ehrlich zu sich selbst, so muß er sich eingestehen, wie diskrepant, folgewidrig und unmoralisch er sich oft verhält, wie wenig er in Wahrheit dem schönen Schein, den er so gern von sich auf andere abglänzen lassen möchte, in Gedanken, Worten, Taten auch entspricht. Noch quellen in ihm Geiferflüsse der Selbstsucht, seine Gier und Lust zu befriedigen – noch: bis die totalitäre Egomanie unserer Zeit überwunden sein wird. Noch wollen die Menschen ‚lieber glücklich sein als gut‘ – wie die jüdische deutsch-schwedische Schriftstellerin und Lyrikerin Nelly Sachs (1891-1970) einmal sehr treffend bemerkte. Und wer – gerade unter den schöpferischen ‚Persönlichkeiten‘ – dürfte sich ganz frei schon fühlen von dieser Anmaßung, ‚das ultimative Werk begründen zu wollen‘ – koste es welche Lüge auch immer! Wem wäre die Verlockung nach dauernder Bildwürdigkeit seiner Person, ‚seiner Schöpfung‘, die ihn zeitlos bewährt gegen alles weltliche Vergessen und Vergehen, endlich sosehr unköstlich geworden – als sei er Gott selbst: frei jedes Defizits! – Wir arm und verloren der Mensch noch ist – bis er erkannt haben wird, welch wahre Macht und zwiefacher Reichtum wirklich in ihm doch schlummern...

Die hier und im biographischen Fragment zu Franz Rappl vorgetragenen Aspekte mögen die kontroversen Darstellungen aller Beteiligten bezüglich der familiären und erzieherischen Umgebung Violanthes zureichend beleuchtet haben. Zweifelsfrei trug Violanthe lebenslang traumatische Erinnerung an ihre Kindheit und Jugend in sich. Auch für die rigorose Abschottung ihrer Eltern und deren Werke – insbesondere der ihres Vaters, selbst ihren engsten Vertrauten gegenüber – hoffen wir eine Reihe plausibler Argumente gefunden zu haben (ausführlicher nachzulesen auf den Seiten zu Franz Rappl). 

Violanthes Beschäftigung mit den komplexen Themen der Sucht und des Selbstbetrugs findet in den elterlichen Defiziten ihre ersten Urbilder und begründet ein weiteres zentrales Motiv ihrer metaphorischen Bilddarstellungen. Ihr eigenes und das väterliche Schicksal verdichten sich wie in einem Katalysator zu tiefgreifenden Anschauungen über die tragische Verkettung und Weitergabe emotionaler und physischer Konflikte: Die Erniedrigten und Beherrschten lernen zu erniedrigen und zu herrschen, die Bedrohten zu bedrohen, die Geschlagenen zu schlagen, die Betrogenen sich selbst und andere zu belügen, die Unwillkommenen zu fliehen, sich zurückzuziehen... 

Vom Vater sind fünf mittelgroße Porträts erhalten; ein erstes zeigt Violanthe 1955 in der Weihnachtsausstellung der Mülheimer Stadtbücherei. – Von Anbeginn seines Lebens gehörte der Vater selbst zu den Gedemütigten, ‚Geschlagenen‘, ihrer körperlichen und schöpferischen Freiräume Eingeschränkten: ihm fehlte von Geburt an der linke Unterarm. – Wie schwer wird er von anderen ob dieser Behinderung diskriminiert und verletzt worden sein; wie stark mag er sich selbst als unwert angesehen und herabgewürdigt haben? – Oder sind Ausgrenzung und Leidensfülle sogar Bedingungen dafür, daß in einem die Befähigung zu wahrhaft tiefem künstlerischen Ausdruck keime?! – Und dürfte dieses Künstlertum dann – muss es das nicht sogar?! – mit den Vernachlässigungen an Kindern, Familie, Freunden und Gesellschaft gerechtfertigt werden? – Wöge dieser schöpferische Wert die Enttäuschungen und Verlustkomplexe auf, die sich unterdessen auf die Schutzbefohlenen und Angehörigen abladen? – Das sind die Kernfragen – und wenn das unerbittliche ‚Nein!‘, mit dem Violanthe alle Annäherungsversuche an die Geschichte und die Werke ihrer Eltern abwies, auch ein Gegenwort auf diese menschlichen Ausfälle gewesen sein mochte, so nährte es zugleich ihr grenzenloses Mitgefühl für die Unbarmherzigkeit, die aus jeder Verbitterung hervorwächst. In vollem Bewußtsein der Unfreiheit und schicksalhaften Bürde ihres Vaters hat sie ihn trotz all der Dürftigkeit ihrer Kindheit, an der er (wahrscheinlich) auch Anteil trug, niemals beschuldigt oder verachtet! Zu gut wußte sie, wie es sich anfühlt, ganz allein dazustehen – in Zwiesprache lediglich mit dem inneren Gott…

Wie jeder sendungsbewußte Künstler konnte auch Violanthe nicht anders gestalten als aus der kritischen Distanz, die keine sentimentale Befindlichkeit oder pathetische Suggestion duldet. Sie folgt dem innersten Grundsatz, niemals die ‚Objektivität‘ des Betrachters verfremden zu dürfen. Und so sind nach den strengen Vaterbildnissen noch viele andere Kunstwerke entstanden, deren zeitlos lebendige Stimme und Wahrheit die erschütternden Empfindungen wiedergeben, von denen die Künstlerin ergriffen war. Die sinnliche Authentizität, die von ihnen ungetrübt ausstrahlen, berührt uns.

 

Wohn- und Vermögensverhältnisse

1901 wurde die Villa der Familie Schwarz direkt am Betriebsgelände in der Scheffelstraße 18 errichtet. Sie ist heute (2015) das von allen damaligen Werksteilen einzig noch erhaltene Wohn- und spätere Verwaltungsgebäude der alten Ruhrthaler Maschinenfabrik.

Es ist müßig, weil unerschwinglich und von ungewisser Aussicht, die Ereignisse um das Konkursverfahren von 1997 und die sich anschließende Vermarktung des Grundstückes und dessen Übereignung an eine Immobiliengesellschaft neu aufzurollen und die von Mitinhabern und Erbberechtigten vorgetragenen Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser Vorgänge überprüfen zu lassen.

Heute steht auf dem 9.700 m2 großen ehemaligen Familiengrundstück und Werksgelände der Ruhrthaler Maschinenfabrik ein Altenheim. Der Bebauungsplan der Stadt Mülheim von 2012 sah auf den noch freiliegenden Flächen die Errichtung einer Wohnanlage mit Stadtvillen und Einfamilienhäusern vor, eine doppelgeschossige Tiefgarage und ein Torhaus als Zugang und Entree zum Wohnpark, wobei auch die ehemalige und heute denkmalgeschützte Villa der Familie Schwarz saniert und mit einem Anbau zum Bürohaus umfunktioniert werden sollte. – Wie weit die Umsetzung dieser Pläne gediehen ist oder in welchen Verhältnissen sich das ehemalige Wohnhaus der Familie Schwarz heute (2018) befindet, ist mir unbekannt. Dieser Forumsdialog und Artikel aus dem Jahr 2009 gibt einen Einblick in die damaligen Vorgänge.

Der Vater Franz Rappls gründete um 1921 eine eigene Druckerei. In ihr arbeiteten neben Franz auch sein Bruder Gotthard, zwei der insgesamt vier Söhne Carl Rappls. – Uns liegt eine Photokopie eines Druckvertrages vor; in seinem Briefkopf die Initialen der beiden Brüder und späteren Eigentümer der Druckerei „F. & G. Rappl“. – Von Frau Schindler wissen wir, daß Franz kein stetiger Arbeiter war, eher ein freigeistiger Künstlertyp, der dauernd über seine Verhältnisse lebte. Da auch die Druckerei nicht florierte, entschied er sich 1927 – gerade als Violanthe zur Welt kam – ‚das Handtuch zu werfen‘, seine Mitarbeit in der Druckerei aufzugeben. Plötzlich hatte die junge Familie Schulden. In der Familienchronik Frau Schindlers heißt es dazu:

„Fast die ganze Aussteuer von Ilse mitsamt dem herrlichen Flügel wurden gepfändet. Sie gaben ihren Hausstand in Donauwörth auf und kehrten in Ilses Vaterhaus in Mülheim/Ruhr zurück. Es war eine sehr demütigende Situation für alle. Franz wurde in der Maschinenfabrik seines Schwiegervaters untergebracht, wo er natürlich überhaupt nicht hinpaßte. Es ging alles schief. Das Ende war: Die Ehe wurde geschieden, Franz nahm sich ein Zimmer in Mülheim. Ilse blieb mit den 3 Kindern im Hause des Vaters. Das war kein leichtes Leben.“

1927 retten sich Franz und Ilse Rappl also nach Mülheim in die Fabrikantenvilla Ilses Vaters. Hier wächst Violanthe von Geburt an auf – im großväterlichen, damals von einem weitläufigen Park und Obstgarten umgrenzten Haus und hier verbrachte sie auch den Großteil ihrer Kindheit und Jugend. Durch Briefanschriften belegt hat sie dort bis 1969 – unterbrochen von mehreren Studienaufenthalten in Düsseldorf, Graz und Salzburg - gewohnt. Erst mit dem Tod der Mutter verläßt sie das großväterliche und elterliche Anwesen. Von 1969 geht ihre Post in die Buggenbeck 32 in Mülheim. Um das Jahr 1973 kehrt sie Mülheim endgültig den Rücken und zieht nach Düren in die Eifel, wo sie eine Arbeit in einem Heim oder in einer Schule findet, in der sie mit behinderten Kindern und Jugendlichen arbeitet.

Nach Angaben Dritter sei Franz Rappl nach dem Weggang aus Donauwörth und dem Zusammenbruch seines Tagewerk-Verlags nicht in das großväterliche Haus, sondern in eine eigene Wohnung in der Mülheimer Heinrichstraße gezogen.

Obwohl die Elternteile (möglicherweise) seit 1927 in verschiedenen Wohnungen leben, wird die Ehe nie geschieden. – Die Angaben Dritter hierzu sind widersprüchlich. Vor allem sind Zweifel an jener Version geboten, nach der das berufliche Konkursverfahren und die sich anschließenden familiären Komplikationen an Franz Rappl unbeschadet vorübergegangen sein sollen. Jedem ‚lebendigen Menschen‘ würden physisch-psychische Erschütterungen derartigen Ausmaßes schwer zusetzen: Hatte sein Schwiegervater, Wilhelm Schwarz, Direktor der Ruhrthaler Maschinenfabrik, sich noch strikt gegen die Heirat seiner Tochter mit Franz Rappl ausgesprochen, müssen die jungen Eheleute jetzt im herrschaftlichen Hause ihres Vaters und Schwiegervaters um Asyl bitten! Und dieser verschafft dem ‚Taugenichts‘ noch eine Anstellung als ‚Betriebswirtschaftler‘ in seiner Ruhrthaler Maschinenfabrik – während dessen eigenes Verlagsgewerbe soeben gescheitert war – und damit wahrscheinlich auch sein dichterisches Werk (wahrscheinlich sein literarisches Gesamtwerk, das er bis zu diesem Zeitpunkt bereits verfaßt und veröffentlicht hatte) und seine gesellschaftspolitischen Einmischungen von der Weltgunst ungehört und unbeachtet ins Vergessen sinken…? – Nein, in Wirklichkeit dürfte sich Franz Rappl durch diese Ereignisse schwer gedemütigt gefühlt haben. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich die latent-inneren und sichtbar-äußeren Konflikte auszumalen, die von nun an die Eheleute und Eltern von drei Kindern bedrängen. Vielmehr passen diese Umstände zu den Erzählungen Violanthes – von den ‚dürftigen Erziehungsverhältnissen‘, unter denen sie gelitten und die sie später aber und abermals angeklagt hatte. Wir können davon ausgehen, daß sowohl die Ehegemeinschaft wie die beruflichen und privaten Lebenswege ihrer Eltern von derartigen Umständen nicht unbeeinflußt geblieben sind.

Ihrer „größten Kindheitssünde“ aus dieser frühen Zeit hat sich Violanthe lange erinnert. Mit ungläubiger und zugleich verwunderter Faszination über sich selbst berichtete sie diese Begebenheit bis zum Schluß immer wieder: Wie sie einmal an einem Wochenende, als das Werksgelände still und verlassen war, aus Wut über ihre Eltern und Lust an der Zerstörung alle Scheiben eines Bürogebäudes mit Steinen eingeworfen und aus Angst vor der Bestrafung zuerst sogar ihren Bruder und andere Kinder dieser Tat bezichtigt hatte. – Von ihrer eigenen Bosheit zutiefst erschrocken gestand sie dann schnell ihre alleinige Schuld ein…

Ein anderes Mal sah sie mit an, wie im Hof unter ihrem Kinderzimmer ein Schwein geschlachtet wurde: Von diesem Tage an hat sie – bis an ihr Lebensende – kein Fleisch mehr gegessen.

Begründet hatte die Ruhrthaler Maschinenfabrik Heinrich Schwarz. Sein Sohn, Violanthes Großvater, Vater ihrer Mutter, Wilhelm Schwarz, stirbt am 09.09.1967. Aus seiner ersten Ehe mit Katharina Wirths (gestorben am 11.08.1938) sind keine Kinder hervorgegangen. Somit fällt sein Erbe zu gleichen Teilen allein auf seine Töchter Erika und Ilse.

Im Dezember 1975 weist eine Lohnbescheinigung Violanthes vom Landesamt für Besoldung und Versorgung NRW in Düsseldorf einen Lohn von 1.309 DM aus. Mindestens bis 1987 erhält sie von dort Gehalt. – Wie gesagt, ich kann leider keine genaueren Angaben zu ihren Tätigkeitsverhältnissen machen. Sicher ist, daß sie zuletzt mit behinderten Menschen gearbeitet hat, vorstellbar wären alle Formen der Kunsterziehung oder therapeutisch-künstlerischen Anleitung. Dritte geben an, daß sie ab 1966 an der Mädchenrealschule Mülheim als Kunsterzieherin arbeitete. Der genaue Zeitpunkt des Eintritts in ihre Frühverrentung war nicht zu ermitteln. Aus losen Papieren geht hervor, daß sie am 01.07.97 eine gesetzliche Altersrente in Höhe von 1.226 DM erhalten hat; im Juli 1998 weisen andere Unterlagen eine Versorgungsrente von 1.043 DM aus. 2009 setzen sich ihre Renteneinkünfte aus einer Betriebsrente und einer Altersrente zusammen und belaufen sich insgesamt auf etwa 1.200 Euro. – Am Altvermögen Frau Rappls hat sich vor allem ein großes deutsches ‚Finanzunternehmen‘ gütlich getan: Von 65.000 Euro, die dort am 31.12.2006 noch in einem Aktiendepot lagen, waren durch falsche Anlageberatung und Verluste in den Jahren der sog. Finanzkrise am Jahresende 2010 nur noch 15.000 Euro übrig.

Am 21.03.2001 schließt Violanthe einen Vertrag mit dem R. G. Fischer Verlag zum Druck ihres Werkes „Die klugen und die törichten Jungfrauen“. Für 1.000 Hefte, von denen sie selbst 40 Freiexemplare erhält, zahlt sie in drei Raten insgesamt 11.240 DM. Nur wenige Bücher aus diesem Privatvorrat hat sie verkauft oder verschenkt. Wegen Unwirtschaftlichkeit und fehlender Lagerkapazitäten kündigt der Verlag 2008 den Vertriebsvertrag und entledigt sich auch aller Restbestände. Nicht viel anders wird es ihr mit ihren beiden anderen Veröffentlichungen ergangen sein, die sie 1994 und 1998 ebenfalls privat publizieren läßt: „Eine Kampfschrift gegen die postmoderne Kunst“ und „Walze kontra Himmelreich“. Auch diese beiden Veröffentlichungen in anderen Verlagen dürften zusammen wenigstens 20.000 DM gekostet haben. Sie hat übrigens alle drei Schriften per Hand verfaßt und mit einer Maschine abschreiben lassen. Mit 75 Jahren schafft sie sich noch einen Computer an, lernt in Kursen seine Bedienung, unterhält E-Mail-Verkehr und läßt sich eine Webseite einrichten. – Jeder bildende Künstler weiß, wie kostspielig gerade die Werkstoffe seines Metiers sind. Blicken wir auf das beachtliche nachgelassene Werk Violanthes, so wissen wir, wohin ihr restliches Vermögen überwiegend geflossen sein muß…

Bis zuletzt formulierte sie ihren tiefen Respekt und ihre große Dankbarkeit ihren Großeltern gegenüber, ohne deren materielle Wohltaten ihr Leben kaum den Kreis seiner Ursprungsverhältnisse verlassen und weit über diese hätte hinauswachsen können. – Wie sagte der große russische Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881): „Geld ist geprägte Freiheit.“ –

Die künstlerische und persönliche Entwicklung Violanthes – unter den geistig wie materiell hervorragenden Bedingungen, in die sie bei allen subjektiv-emotionalen Defiziten stets eingebettet war – bestätigt eine meiner sozialen Hauptthesen: Herausragende Produktionen gehen später (zumindest weitaus zahlreicher; es gibt natürlich auch die umso bewunderungswürdigeren Gegenbeispiele) von solchen Persönlichkeiten aus, in deren Umgebungsbedingungen eher Überfluß anstatt Mangel herrschte, die, sowohl was die physischen- als auch die ideellen Objekte anbelangt, auf ein reicheres Spektrum von Möglichkeiten und Anschauungen zurückgreifen konnten, durch die sie aktiviert und angespornt wurden. Außerordentliche Beispiele steigern die Bekenntnisfähigkeit zur eigenen Außerordentlichkeit und den dazugehörigen Ausformungswillen. Oder ganz allgemein: Sonderleistungen resultieren vorwiegend aus Sonderbedingungen.

 

In diesem Zusammenhang geben wir weitere Einlassungen Dritter zur Kenntnis: „Jola hat NICHT, wie sie immer erzählte, und wie sie es auch in ihren Publikationen darstellte, eine ‚fürchterliche Kindheit‘ gehabt, sondern wuchs eher wie der Dotter in einem Ei auf, wohlbehütet und wohlbeschützt. So wurde ihr Studium an der Kunstakademie Düsseldorf, Ende der 40er-, Anfang der 50er Jahre von der Familie voll bezahlt, ohne daß sie, wie fast alle ihrer Kommilitonen, einen Studentenjob hätte leisten müssen. Auch wurden ihre Studien an der Salzburger Sommerakademie – drei Kurse bei Oskar Kokoschka und später bei Professor Szyszkowitz – ebenfalls von der Familie voll finanziert. – Die Familie war wohlsituiert, erlaubte sich auch vor 1945 sowohl Kindermädchen, Putzhilfen etc., die in Mansardenzimmern wohnten. Ilse Schwarz war vor 1939 Eigner eines Autos ‚Adler Autobahn‘. – Zwischenzeitlich malte Jola auch Porträts diverser Ruhrthaler-Direktoren und anderer Menschen, und erhielt gute Bezahlung dafür. – Später lebte sie gut von den Einkünften als Lehrerin plus die dazukommenden Geldbeträge nicht unerheblichen Umfanges aus der Ruhrthaler Familienfirma, ansonsten hätte sie sich auch kein eigenes Haus, Auto und andere Bequemlichkeiten leisten können. – Ich vermißte bei Jola sehr oft eine gewisse Empathie als auch Verständnis für andere Meinungen als ihre aktuelle eigene.“

Einem Außenstehenden mag es zu Recht befremdlich erscheinen, wenn derart spezielle Angaben über die persönlichen Verhältnisse eines Menschen öffentlich werden. Mit Bitte um Verständnis antwortet der Chronist im Biographen: Wie jeder Archäologe hat auch er die heilige Pflicht, alle überhaupt verfügbaren Details aufzubewahren und zu konservieren.

 

Haus- und Grunderwerb

Legen wir für die 17 Jahre – vom Tod der Mutter bis zum Konkursverfahren der Ruhrthaler Maschinenfabrik gerechnet – durchschnittliche Nettoeinnahmen (nach Steuerabzug) von jährlich 40.000 DM zugrunde, so könnte das Violanthe zugeflossene Vermögen aus den ererbten Firmenanteilen 700.000 DM betragen haben.

Am 26.10.73 unterzeichnet sie den Kaufvertrag für ihr Grundstück auf einem kleinen Hügel bei Kreuzau in der Eifel. Für 730 m2 zahlt sie damals 16.790 DM, 23 DM/m2. Zu dieser Zeit wohnt sie in der Weidmühlenstraße Nr. 23, in Echtz-Düren. Die Gesamtbaukosten wurden 1974 in einer Vermögens- und Einkommensteuererklärung mit 126.000 DM angegeben. Am 26.08.1980 weist der Bauantrag bzw. die Baubeschreibung für den Atelieranbau Gesamtbaukosten von 70.000 DM aus. Das erweiterte Anwesen von Violanthe entsprach damit einem damaligen Gesamtwert von etwa 217.000 DM. Der Einheitswert des Grundstückes wird am 26.10.1977 zu steuerlichen Zwecken auf 43.900 DM festgesetzt; 1982 wird bereits ein Einheitswert von 65.500 DM angenommen.

Von Beginn an gestaltet sie Einzelheiten beim Bau des Hauses und später auch beim Anbau architektonisch mit: Sie läßt Seitenwände schräg einsetzen, inspiriert den Ofensetzer entgegen aller sonst üblichen Geradlinigkeit zu einer individuellen Ausführung der Kaminmauerung und läßt das etwa 100 m2 große Wohn- und Atelierzimmer mit dunklen Naturstein-Granitplatten bedecken, unter denen eine Fußbodenheizung für Wärme sorgt. Ansonsten bleibt ihr Haus karg ausgestattet, nur zwei Extravaganzen leistet sie sich: ein eingebautes Bücherregal und einen großen Eßtisch aus Marmor. 1990 wird für über 10.000 DM die Ölheizung erneuert.

 

Weltanschauliche Entwicklung

Um das Jahr 2005 beteiligt sich Violanthe zeitweilig als Autorin bei der Internetzeitschrift „Die Alternative“ (hier das Replikat: www.die-alternative-zeitschrift.de; die Arbeit an der Seite wurde eingestellt, auch sind die Artikel nicht mehr verfügbar). In den Mitgliederporträts sagt sie über sich selbst, „daß sie Wege durch die Nacht der Seele in das Licht göttlicher Liebe in Schrift und Bild aufzeigen will.“ – Kürzer kann man ihr Lebensthema und künstlerisches Credo nicht fassen. In einem Beitrag schreibt sie dort:

„Der MENSCH ist der größte MÖRDER der Schöpfung auf dieser Erde. Die einzige Rasse, die ständig bereit ist, sich gegenseitig zu töten und zu vernichten. Alles das geschieht, weil wir unsere Emotionen hauptsächlich zum Töten und Hassen benutzen, anstatt diese große göttliche Gabe des Fühlens zum Positiven entwickelt zu haben. Wir tuen uns schwer zu lieben, anstatt zu hassen. Den göttlichen Funken haben wir in uns, aber es ist leichter seine Ängste und Aggressionen in Äußerlichkeiten, Gleichgültigkeit und Drogen jeder Art versacken zu lassen. Es ist an der Zeit, uns zu besinnen, daß wir die Aufgabe zu höherer Entwicklung haben. Genügend Verstand ist ja vorhanden! Es ist nicht wahr, daß uns die Erde gehört. Wir sind nur Gäste! Alle Pflanzen, Tiere und Menschen haben das gleiche Recht auf dieser Erde zu leben. Wir haben die Chance uns zu einem höheren Wesen zur Liebe hin zu entfalten. Liebe heißt, sich einfühlen, mitleiden, verstehen zu können und alle Geschöpfe dieser Erde als Geschwister zu betrachten und keine Macht über sie ausüben zu wollen. Sicher gibt es viele Menschen, die sich ein friedliches liebevolles Zusammenleben aller Wesenheiten wünschen. Möchte doch diese Sehnsucht als eine GÖTTLICHE FEUERFLAMME weitergetragen werden.“

Es scheint, als gäbe es keinen anderen Weg hinunter in die Vorhöfe des großen Mysteriums unserer Existenz als über die Schwefel- und Kraterlandschaften existentieller Not, körperlicher Gebrechen, innerer Verlassenheit, unerträglicher Verzweiflung. Es scheint, als entzündete sich diese göttliche Feuerflamme im Inneren des Menschen allein durch die Zerstörung des äußerlichen Menschen – als müßten immer erst die Gewalten der äußeren Welt gegen die falschen Versteinerungen des Inneren anschlagen, sie aufsprengen, um dabei den zündenden Funken auszulösen, der die Glut reiner Einsicht und brennender Hingabe in den Herzen der so geprüften Geschöpfe anfacht und nährt. Und wir wissen: Wann immer sich etwas ‚entzündet, brennt, verzehrt, leidet, schmerzt, zerfällt und vergeht‘: es löst sich zugleich dabei auch etwas auf, verwandelt und verfeinert sich, beginnt zu leuchten und zu wärmen. Es scheint ein Gesetz jeder geistigen und physischen Entwicklung: Ohne daß sich bestimmte Erfahrungen schmerzhaft in das Seelengewebe unseres Seins einbrennen, ohne Meisterung existentieller Prüfungen gibt es auch keine essentiellen Erkenntnisse, keine wahrhaft bedeutenden Fähigkeiten. Und nur aus solchen tiefen Wahrheitsgründen heraus gelingen auch echte Veränderungen – begonnen bei sich selbst…

Am offensten für die Wahrheit sind die Augen der Leidenden. Wer das Leiden nicht erkennt, erkennt auch nicht die Erlösung. Uns durchglüht das Leiden – mit der Liebe, die uns zu Gott führt... Leiderfahrung als alchemistischer Prozeß der Menschwerdung: Das wahre innere Wesen gewinnt seine Kontur in der Erfahrung von Leid und Tod. Aus dem selbst erlebten und geläuterten Schmerz steigt die wahre menschliche Kraft auf: Das Leiden wird zu einem Fühlen und Wissen für andere, für das Andere. So kommt dem ‚Leiden‘ eine zentrale Funktion bei der Ausbildung einer vollständigen und damit erst auch wahrhaft menschheitlichen Verstandes- und Seelenwelt zu. Erst die persönliche Betroffenheit führt auch zu politischer Bewußtheit und tief begründeter Widerstandskraft. – Der deutsche Schriftsteller, Maler und Philosoph Bó Yin Rá (Joseph Anton Schneiderfranken, 1876-1943) wußte von der initiatorischen Bedeutung, die jedem Leid innewohnt und die es sogar nötig zu machen scheint zu Wachstum und Erlösung: „Jedes Leid ist einer späteren Freude vorgesandtes, geheimnisvolles Zeichen.“ –

Von welch entsetzlicher Verzweiflung schon die ersten bewußten Gedanken des Kindes Violanthe Christiane bestimmt waren, welche Auseinandersetzungen es bereits früh mit sich zu führen hatte, zeigt ein bedrückendes Beispiel, von dem sie mir immer wieder bis zuletzt erzählte: Höchstens sechs oder sieben Jahre alt war sie, als ihr ein Arzt eine harmlose Injektion verabreichen wollte – sie bat ihn um die Erlösung: „Bitte geben Sie mir eine Spritze, damit ich nicht mehr aufwache.“

Erst nach ihrem Tod fiel Licht in die bis dahin völlig undurchsichtigen und von ihr streng verschlossen gehaltenen Gewölbe ihrer Seele, in denen sie ihre Kindheitstraumata verbarg: Wann immer ihre älteste und wichtigste Lebensfreundin, Frau Schindler, oder ich, ihr engster Freund und Vertrauter in ihren letzten Lebensjahren, sie nach persönlichen Dingen fragten – nach ihrer Kindheit, ihren Eltern, den Gründen für die Verbitterung gegen sie, nach ihren eigenen Lebens- oder den Berufswegen ihrer Eltern –, Violanthe ließ kaum einblicken in diese privaten Verhältnisse, von denen sie zeit ihres Lebens bedrückt blieb.

Im Januar 2015 benachrichtigte ich alle auffindbaren Personen aus dem Umfeld Violanthes über ihr Ableben. Lediglich eine einzige Rückantwort erhielt ich – von Frau Schindler. Nach telefonischem Kontakt bot sie mir an, Teile aus ihrer Familienchronik für meine Aufarbeitung nutzen zu dürfen und mich in allen weiteren Fragen, so gut es ihr möglich sei, zu unterstützen. Und erst sie war es, die mir auch bestätigen konnte, daß es sich bei dem unscheinbaren Heftchen mit dem Titel „Der Wandersmann der Liebe“, das ich fast zerfallen im Nachlaß Violanthes fand, um eine Schrift ihres Vaters – des Dichters Franz Rappl – handelte und daß beide, Vater und Mutter, Franz und Ilse Rappl, künstlerisch orientierte und extravagante Persönlichkeiten gewesen waren. – Hier begann – in Zusammenarbeit mit Frau Schindler – meine tiefer greifende Untersuchung über die Familienangelegenheiten und die vielen ungeklärten Fragen im Leben Violanthes. Wie gesagt: Den Versuch, eine Antwort auf spezielle dieser Fragen zu geben, habe ich vornehmlich im biographischen Fragment über Franz Rappl unternommen, genauso wie ich auch hier schon auf besondere Konfliktpotentiale hingewiesen habe, die dem schöpferisch-künstlerischen Wesen eines Menschen gleichsam mitgegeben werden – und die zu Vernachlässigungen führen können, sowohl in privater als auch erzieherischer Hinsicht, ihn betreffend als auch von ihm ausgehend.

Solange ich Violanthe kannte, trug sie einen unendlich tiefen Schmerz in sich, ihrem Gefühl nach niemals wahre elterliche liebevolle Zuwendung erfahren zu haben. In ihrem autobiographischen Werk „Walze contra Himmelreich“ hat sie diese lebensfeindlichen Bedingungen offenbart – zumindest soweit sie sich daran erinnern und Erklärungen dafür finden wollte. Dort beschreibt sie das erzieherische Vakuum, das emotionale Trauma, das ihr Leben folgenschwer bestimmt hat, erzählt von den – ihrer Wahrnehmung nach – seelischen Mißhandlungen, den Ausgrenzungen und Demütigungen wie auch von der physischen Gewalt, mit der ihre Eltern sie gezüchtigt haben sollen. Ihre empfindliche seelische Konstitution und ungewöhnliche Sensibilität werden diese verletzenden Einprägungen im zarten Menschenkindgewebe Violanthes verstärkt haben. Und immer wieder berichtete sie auch, wie sie diese Hölle menschlicher Verlassenheit, seelischer und körperlicher Tortur, nur überleben konnte, weil sie sich „von Engeln durch sie hindurchgetragen und von einem übernatürlichen Wissen getröstet“ fühlen durfte: Mit zauberischer Eindringlichkeit traten bildliche Sinneseindrücke vor ihr geistiges Auge und sicherten ihr die zukünftige Vollendung all ihrer Sehnsucht zu – so vertraute sie es mir immer wieder an. Und diesen magischen Bekräftigungen folgend muß sie am Boden aller Scherben endlich das heilige und erleuchtende Elixier ihrer eigenen Auferstehung gefunden haben: die unendliche Liebe Gottes, von der niemand getrennt werden kann und in der all diese vermeintlichen Zumutungen eingebettet sind...

Plötzlich schloß sich ihr aus solcher unmittelbar empfangenen tröstlichen Gewißheit auch der individuelle Sinn ihres Lebens auf. Denn nur einem Menschen im Zustand äußerster Not – oder im Vollbesitz eines von keinerlei Störung getrübten Bewußtseins – bricht auch ein lichter Spalt des Geistes auf, durch den er das unbegreifliche Angesicht des Überirdischen gewahrt. Hier offenbaren sich ihm – wie hinter jedem schmerzhaften Negativ – die Umrisse Seines Positivs – aus dessen vollkommener Gießform all die namenlosen Fehlversuche unserer aller noch so unvollkommenen Daseinsformen und Gesellenschaften entsprungen sind... In einem derart klarsichtigen (leider undatierten) Moment fühlt die junge Künstlerin dieses ergreifende Gebet in sich aufsteigen und vertraut es ihrem Tagebuch an:

„Vater, Du hast Dich meiner erbarmt. Ich darf in Dein Antlitz schauen, darin ich mich erkenne. Ich bin Dein Kind, Deine Schöpfung. Du hast auf mein Kommen gewartet. So wartest Du auf jeden Menschen, denn alle Menschen sind Deine Kinder, alle sind sie von Deinem Leib. Du liebst sie in Unendlichkeit.

Erst wenn der Mensch sich seiner selbst erbarmt, kann er Dich schauen. Erst wenn der Mensch alle Sünde aufnimmt und barmherzig an sein Herz drückt, kann er Dich erkennen. Erst die allerbarmende Liebe macht ihn rein, macht ihn zu einem Edelstein, in dem sich Dein Licht bricht.

Vater, das Maß aller Dinge ist Deine Liebe. Darum will ich jeden Augenblick sagen: >Dein Wille geschehe.<

Ich sitze an einem Brunnen, aus dem unendliches Leben fließt. An dieser Quelle hält Gott mit der Erde Hochzeit. Hier wird die Welt täglich neu geschöpft. Gott braucht den Menschen, denn nur durch ihn kann Er sein Reich auf dieser Erde errichten. Wenn in jedem Menschen das Reich Gottes aufgerichtet ist, wird diese Welt erlöst sein.

Mensch, ertrage Dein zerstörtes Antlitz, nimm es barmherzig in Deine Hände und trage es nach Golgatha. Nimm das Leid an, es ist das Leid Gottes. Es brennt Dich rein, damit Du neu geboren wirst.

Jeder Mensch trägt die Schuld dieser Welt bis ans Ende der Zeit. Er trägt sie unentwegt mit den anderen Menschen, damit er die Gnade nicht verliert, in Gottes Angesicht zu schauen. Denn auch die Sünde ist ein Teil Gottes.

Gott schickt den Menschen durch die Sünde, damit er tief seine Wurzel in die Erde schlägt. Je tiefer die Wurzel im Erdboden haftet, desto höher ragt die Krone zum Himmel hinauf. Ein Baum mit Luftwurzeln trägt keine Früchte.“

Meine eigene Erfahrung lehrte mich, daß es mir zumeist nur dann gelingt, eine innige Verbindung mit Menschen herzustellen, die selbst schon von Leid, Verzweiflung, Krankheit, Verleumdung, Ausgrenzung oder von anderen tief erschütternden Geschehnissen ergriffen worden sind. Unter diesen schmerzhaft Gebrannten braucht es keinerlei Gewöhnung: Die Verständigung ist unmittelbar einmütig ohne jede Unsicherheit. Dies zeigt, daß am Grunde aller Erkenntnis eine unteilbare Wahrheit ruht und es nur eine Frage der Verhältnisse und persönlichen Erlebnisse ist, ob man dorthin gelangt oder gedrängt wird – oder ob man diesen universellen Einsichten eine Zeit lang noch auszuweichen versucht. Und der schönste und bezeichnendste Umstand dabei bleibt, daß in keinem dieser Menschen, welche jene erschütternde Ebene der Wirklichkeit berührt haben, ein kleiner Zweifel nur noch zu finden wäre ob der Einwirkung überirdischer Kräfte und Mächte auf unser Dasein. Sobald die Panzer unserer Egomanie und gefälschten Selbstsicherheit aufgebrochen sind, rührt an jedes Herz und gemütsinnere Ohr die feine unablässige Stimme der Wahren Wirklichkeit und öffnet uns dem Wesen höherer Schönheit und tieferer Bedeutung... – „Nur wenn der Mensch des Äußeren beraubt wird wie Winter, besteht Hoffnung, daß sich ein neuer Frühling in ihm entwickelt“, sagte der persisch-indische Mystiker Rumi (1207-1273).

 

Zwischenmenschliche Leere

Gewaltakte gegen die kindliche Seele sind und bleiben die schwersten Verbrechen, möchten sie auch unter dem späteren Lebensgang verblassen: Die Zeit heilt keine Wunden, sie kann uns lediglich lehren, sie anzunehmen, mit ihnen zu leben.

Wunden kollektiver Art hinterließ der 1. und 2. Weltkrieg im physischen und psychischen Körper des deutschen Volkes. Auf dem Boden dieser von unendlichem Leid blutenden Erde schlugen die beiden politischen Lager dieser Welt ihre Gefechtslinie auf: Im Osten nährte man den Idealismus von der sozialen Revolution, im Westen die Restaurationsidee vom Glück durch Besitz und Konsum. Obwohl sogar noch im Ahlener CDU-Programm von 1947 das kapitalistische Wirtschaftssystem als gescheitert erklärt worden war, verhärteten sich die ideologischen Fronten wiederum in kürzester Zeit – und zwar buchstäblich: Eine unüberwindliche Mauer teilte das Land jetzt sogar physisch. Abermals rissen gesellschaftliche Systeme Wunden in die kollektiven und persönlichen Herzen: im Osten der konzeptionelle Verrat am Idealismus seiner sozialistischen Revolution, im Westen die ökonomische Verblendung, die alles Authentisch-lebendige unter Besitz und Konsum begrub. Auf der einen wie auf der anderen Seite litten Menschen erneut, kamen zu Schaden, wurden verfolgt, belogen, benutzt. Anstatt die Erfahrungen aus unserer Geschichte zu einem wahrhaft menschlichen und zuverlässigen Miteinander umzuarbeiten, statt sich voll bewußst zu werden des Wunders des Lebens und Überlebens und der wirklichen Bestimmung des Menschseins, anstatt sich gegenseitig der geistigen und emotionalen Entfaltung zu dienen, wurde unser Volk erneut machtpolitisch deformiert und instrumentalisiert.

Niemals empfand mein ostdeutsches Gemüt die Spaltung und ungeheure Divergenz dieser beiden politischen Systeme deutlicher als in den Wochen des Jahres 2012 – 22 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands! –, in denen ich längere Zeit im Hause Violanthes lebte, um ihre Betreuung zu organisieren, die aufgrund ihrer fortschreitenden dementiellen Erkrankung zwingend wurde. Natürlich hatten längst auch im Osten materieller Egoismus und ideelle Oberflächlichkeit Einzug gehalten: Die kapitalistische Gesellschaftsordnung, die nach 1989 Gesamtdeutschland oktroyiert wurde, verdrängte zunehmend auch im Osten jene zwischenmenschlichen Qualitäten, die wir Älteren, weil unter sozialistischen Bedingungen aufgewachsen, im gegenwärtigen System am schmerzhaftesten vermissen. Doch die vollständige bereits ins Unbewußte des westlichen Menschen eingedrungene und wie natürlich übernommene Anpassung an dieses strukturelle Prinzip der Arglist und Unwahrhaftigkeit, die der Kapitalismus erzwingt, erschütterte mich zutiefst: Feindseligkeit, Dummheit, Arroganz schlugen mir während meiner helfenden Eingriffe in das Leben Violanthes so kollektiv ins Gesicht, behinderten und diffamierten meine Bemühungen mit einer Intensität, die mir – namentlich in Anbetracht meiner Absichten! – unvorstellbar war. Von den argwöhnischen oder desinteressierten Beteiligten und ‚zuständigen‘ – bzw. ‚nicht zuständigen!‘ – Behörden fühlte ich mich in diesen Wochen am Lebensort meiner langjährigen Freundin fast körperlich bedroht. – Ein allererstes anerkennendes und dankbares Wort über meinen Einsatz empfing ich erst 2015 – nach dem Tode Violanthes von ihrer 85jährigen Cousine und Freundin!

In diesem Moment wurde mir die zweite große Tragödie im Leben Violanthes physisch greifbar, die sie nach dem Trauma ihrer Kindheit erlitten hatte: die immense äußerliche und emotionale Einsamkeit und gesellschaftliche Kälte, in der sie als schöpferisches Wesen zu leben hatte! Denn was heißt es, sein Dasein in einer Atmosphäre programmierter Beziehungslosigkeit bestehen zu müssen? Und was heißt das erst für einen sensitiv-kreativen Menschen, dem nichts bedeutender erscheint als der menschliche Austausch über die innersten Empfindungen am Grunde unseres Seins? – Ein Martyrium für alle Schüler des Geistes, eine irdische Hölle für jeden Fühlenden, Denkenden, Lebendigen – bis seine Verankerung im metaphysischen Bereich unauflöslich ist…

Violanthe war 18 Jahre jung als der Krieg zu Ende war – und trat aus der emotionalen Armseligkeit ihrer Kindheit in die geistige Trostlosigkeit der Erwachsenenwelt! Selbst ihre ‚engsten Freunde‘, zu denen sie 30 Jahre lang nachbarschaftliche Kontakte pflegte, blieben bis zuletzt unfähig, ihren Arbeiten anders als spöttisch zu begegnen: sie befanden sie für ‚nutzlos‘, hielten Violanthe im Geheimen für ‚verrückt‘ und haben schließlich auch mein Eingreifen zu diskreditieren versucht.

Erst jetzt wurde mir das Ausmaß der ideellen Isolation bewußt, in der Violanthe gelebt hatte. Und nie zuvor ist mir auch die systemimmanente Verschiedenheit im sozialen Wesen unserer beiden deutschen Nationen greifbarer vor meine Anschauung getreten. Wie in einem hellsichtigen Moment offenbarte sich mir das enorme Potentialgefälle meiner eigenen humanistisch-sozialistischen Ausbildung zu jenem eklatant-pathologischen Defizit an Beziehungskompetenz, zu dem die anonyme Geschäftlichkeit, mit der sich die Menschen hier wie selbstverständlich begegneten, führen mußte. – Da Violanthe und ich aber unter dem Schutz höherer Mächte standen und somit unerreichbar waren für alle negativen Einwirkungen, fügten sich auch alle Vorsorgeregelungen zuletzt zu unserer vollen Zufriedenheit...

 

Künstlerische Selbstrettung

Dies ist die furchtbarste Selbstverbannung, Selbstverstümmelung, in ihrer tragischsten Form: wo es immer nur bis an die Grenze zum Eigentlichen geht, wo nichts mehr eindringen und herauskommen darf, alles unpersönlich und allgemein bleibt, wo es immer die anderen sind, man sich jedoch niemals selbst bekennen, offenbaren oder zu erkennen geben muß... Und diese Methode der Selbstverleugnung hatte der kapitalistisch normierte Macht- und Maschinenmensch über Generationen in sein physisches Gewebe zu übertragen, zu verinnerlichen: ‚Jede Offenbarung macht angreifbar und diese >Schwäche< taugt nichts in einer kommerzialisierten Welt!‘

Genauso wie es Karl Marx in seinem ‚Kommunistischen Manifest‘ als „Verdienst des sich entwickelnden Kapitalismus“ bezeichnet hat, die althergebrachten Verhältnisse auf eine nackte, dürre Austauschbeziehung zurückzuführen, so möge auch meine gesellschaftspolitische Einlassung beileibe nicht als Vorwurf gegen Menschen verstanden werden, die sich auf Gefahr des Untergangs in einem inhumanen System zu behaupten haben. Vielmehr ist es überlebenswichtige Fähigkeit menschlicher ‚Intelligenz‘, sich den Umgebungsbedingungen möglichst ideal anpassen zu können: Wer Profit oder ‚Wirtschaftswachstum‘ zu seinem Götzen macht, der muß zugleich alle empathischen Fähigkeiten in sich veröden, denn nur der Unempfindliche kann den Bruder und die Schwester, Mitgeschöpfe und Natur zu ‚seinem Nutzen‘ verraten oder ausrauben, ohne darüber nachzudenken oder zu erschrecken. – Allerdings hätte wahre Intelligenz aus diesen verhaltensökonomischen Einsichten längst auch sinnvolle – praktische – Konsequenzen abgeleitet!

Unter diesen ‚psychosomatischen‘ Blickwinkeln betrachten wir die Bilder und lesen die Schriften Violanthe Rappls neu – und erfassen den tiefen intentionalen Grund, auf dem sie gereift und aus dem heraus sie zur Verwirklichung drängten. So wie die Verständigung der Verletzten und Leidenden untereinander durch gleichwertige Einsicht in die Eine Universelle Wahrheit vollkommen störungsfrei fließt, genauso ist – mit entsprechender Übung – jeder wahre Künstler auch fähig, seine originäre Schöpfungskreativität auf andere Medien zu übertragen. (Bei dem heute herrschenden Begriff vom Künstlertum ist man gezwungen, diese pleonastische Doppelung vom ‚wahren Künstler‘ zu verwenden!) – Und so erweiterte Violanthe ihr bildnerisches Talent um die Möglichkeiten der sprachlichen Vermittlung. Sie begann programmatisch: 

1994 erscheint ihre „Kampfschrift gegen die postmoderne Kunst“ – eine Psychoanalyse der Oberflächlichkeit: Unter dem Konsumzwang und Konformitätswahn marktorientierter Ideologie ist der Verlust authentischer menschlich-beziehungsreicher Sprache und Gestaltung vorprogrammiert. 

1998 läßt sie ihre persönlichste und umfangreichste Veröffentlichung drucken: „Walze contra Himmelreich – Wann beginnt die Evolution des Menschen?“ – Nach einer Einteilung der psychischen Strukturen, die den Lebensformen Stabilität verleihen, folgen Wegbeschreibungen zur Selbstbefreiung und zum Eintritt in innere Wirklichkeitsebenen. Im Zentrum steht hier die Lebens- und Familiengeschichte Christines, eine autobiographische Aufarbeitung der Kinder- und Jugendjahre Violanthes. Ein philosophischer Dialog mit Ganymed über viele Fragen des Daseins, der Liebe und der Kunst schließt das 116 Seiten starke Büchlein ab.

2001 vollendet sie den Bilderzyklus „Die klugen und die törichten Jungfrauen“ und veröffentlicht unter dem gleichnamigen Titel ihre bildnerische und schriftstellerische Synthese. Alle drei Werke sind dem interessierten Leser auf der Internetseite www.archiv-swv.de (bzw. hier) zugänglich.

 

Der väterliche Lehrmeister

Am Ende der Geschichte des Mädchens Christine lesen wir: 

„Ein Vater und Kunstprofessor übernahm für einige Zeit die Führung. Er war ein leidenschaftlicher Liebhaber guter Kunst. Seine Liebe ging weit über das hinaus, was er selber schaffen konnte. Das ergibt eine großzügige Sicht. Die Gabe, ein Bild bis in alle Einzelheiten im guten Sinne zu analysieren, konnte er auf geschickte Weise vermitteln. Es war wohl die Freude, alles bis ins Detail liebevoll zu entdecken. Er machte Christine bewußt, was sie konnte, weil er sah, daß sie es mit dem Verstand gar nicht wahrnahm und somit auch nicht bewußt einsetzte. Das war etwas sehr Wichtiges, weil ihr damit eine viel größere Durchsicht der Möglichkeiten offenstand. Es war, als stünde sie in einem Werkzeugladen, wo sie sich alles, was sie an Werkzeugen brauchte, nehmen konnte. Damit besaß sie die Grundlage, unterrichten zu können. Sie hatte einen Beruf gefunden, mit dem sie selbständig ins Leben hineinwachsen konnte.“

Dieser ‚Vater und Kunstprofessor‘ war Rudolf Szyszkowitz. Ihre erste Begegnung muß zwischen 1959 und 1964 gelegen haben, denn Violanthe war spätestens seit 1959 jährliche Teilnehmerin der Salzburger Sommerakademie, deren Leitung Prof. Szyszkowitz 1964 übernahm. Auf jeden Fall gehörte sie seiner ersten Studienklasse an, wie es ein Brief von Prof. Szyszkowitz an Fräulein Rappl vom 26.12.64 belegt. Die Förderpreise der Stadt Salzburg, die sie 1965 und 1966 für ausgezeichnete Leistungen im Seminar „Figurative Malerei“ erhält, sind von Prof. Szyszkowitz mitunterzeichnet. Aus einer zehn Jahre währenden Korrespondenz sind 17 Briefe an Violanthe erhalten. Sie zeugen von der persönlichen Verbundenheit des Lehrers mit seiner Schülerin und dem besonderen Interesse, das er ihrer Weiterentwicklung angedeihen ließ. Zugleich gewähren sie auch Einblick in manchen Konflikt, den Professor Szyszkowitz zur Verteidigung seiner eigenen künstlerischen Ansprüche mit dem kommerziellen Salzburger Kulturbetrieb auszufechten hatte. Viele seiner methodisch-philosophischen Aussagen in diesen Briefen, mit denen er den Weg der jungen Künstlerin bestätigt und ihn vorausweist, sollen im folgenden Kapitel wiedergegeben werden. Ihnen wohnt jene ganz seltene Überzeugungskraft inne, wie sie nur von Herzensmenschen verkündet und übertragen werden kann, die durch Hingabe und konsequente Ehrlichkeit der Sache gegenüber in Bereiche von allgemeingültiger beispielgebender Wahrheit vorgedrungen sind – so wie das für das herausragende Schaffen und den beeindruckenden Charakter R. Szyszkowitz’ gegolten haben muß, wie uns alle Überlieferungen fühlen lassen, die von ihm erhalten sind.

Der Mangel an elterlicher Zuwendung wird den intentionalen und initiatorischen Einfluß, den das wichtigste Vorbild Violanthes auf ihr ganzes Leben hatte, entsprechend verstärkt haben. Es nimmt daher auch nicht wunder, wie sichtbar handwerklich ihr bildnerisches Schaffen von ihrem Lehrer inspiriert ist und wie sich beider Entwicklungswege auch inhaltlich ähneln: Im wahrsten Sinne des Wortes ‚krönendes Beispiel‘ dieser Gestaltungskongruenz ist das von beiden Bildnern am Ende ihrer künstlerischen Produktivität wiederaufgegriffene biblische Thema von den klugen und törichten Jungfrauen: Zwei Jahre vor seinem Tod, 1974, gestaltet Szyszkowitz für die Kapelle im Kloster zum Guten Hirten auf dem Baumgartenberg bei Perg in Oberösterreich die Betonglasfenster „Die klugen Jungfrauen“. 27 Jahre später vollendet auch Violanthe ihre eigene künstlerische Biographie mit dem Bild- und Textzyklus „Die klugen und die törichten Jungfrauen“...

Rudolf Szyszkowitz, am 27.04.1905 in St. Martin geboren, am 06.01.1976 in Graz gestorben, schloß sich bereits mit Fünfzehn der österreichischen reformkatholischen Jugendbewegung und dem 1919 gegründeten Bund Neuland an, der starken Einfluß auf die „Liturgische Bewegung“ in Österreich hatte. Die dort ausgebreiteten Ansprüche nationaler geistlicher und künstlerischer Erneuerung, seine Gegenbewegung zur Verweltlichung und Profanisierung des christlichen Glaubens, haben R. Szyszkowitz geprägt und die thematische Ausrichtung seines inneren und äußeren Werkes bestimmt. Mit liebender Überzeugung fühlte er sich der Weitergabe dieser hohen Ideale menschlicher Wahrhaftigkeit in Geist und Tat, in Wort und Bild bis zum Ende seines Lebens berufen. Er wurde als Schüler an der Wiener Akademie mehrfach ausgezeichnet und erhielt 1935, zusammen mit dem österreichischen Graphiker und Buchautor Alfred Kubin (1877-1959), den Staatspreis für Graphik. Aus einem expressiven Gestaltungswillen heraus versucht Szyszkowitz sowohl das Innere und Äußere des Menschen, als auch die Welt seiner Ideen und die ganze göttlich-beseelte Natur in seinem Schaffen zu vereinen. Beziehungslose Abstraktionen und formzerstörende Aggressionen waren ihm verpönt. Trotzdem galten ihm die Freiheit in der Gestaltung und der persönliche Ausdruck innerhalb dieser Freiheit als höchste Prinzipien der Darstellung – vorausgesetzt, Thema und Objekt sind als intentionales Motiv konkret erkennbar. Aus diesem Grund legte er als Studienleiter methodisch höchsten Wert auf „die Erarbeitung einer tiefinneren zweiten Natur, wozu als Ausgangspunkt die allgemein faßbare Naturerscheinung unausweichlich notwendig ist. Selbst die von der Natur am weitesten entfernte Expression muß die vom Menschen in Jahrtausenden erfahrene Maßnorm als Grundgesetz künstlerischer Gestaltung anerkennen und immer wieder aufs Neue erkennen.“ (Zitiert aus: „Rudolf Szyszkowitz – Zum Gedenken“, Neuland-Heft Advent 1976, Sondernummer, S. 23.)

Für den religiös verwurzelten Künstler Rudolf Szyszkowitz hatte jede Kunstausübung der Gewinnung von Selbsterkenntnis zu dienen – und damit der Vermittlung wahrer Erkenntnisse über die Welt, ihrer äußeren und inneren Realität, ihrer materiellen und transzendentalen Einheit:

„Ich halte eine künstlerische Arbeit dann für gut und meinen Vorstellungen entsprechend, wenn sie durch die innersten und äußeren Begegnungen mit dem, was rund um und im Künstler vor sich geht, entsteht, und durch die entsprechenden Mittel seines Ausdrucks einen Niederschlag erfährt; Gut-Ab-Normes im Ausdruck soll über der sicheren Beherrschung der Normen liegen; die sichere Beherrschung der Form soll wie ein gesetzlicher Halt sein – immer bereit. Das junge Talent gehört so ausgebildet, daß es zuallererst den Raum und die Massen im Raum erkennt und sie mit den malerischen Bauwerten, aus dem Raum geholt, in den Raum zu bringen trachtet (Bildraum).

Wie jeden Meister seines Fachs, so zierten auch Rudolf Szyszkowitz besondere Begabungen in anderen Bereichen: Sein aufrichtiger unmittelbarer Zugang zum Menschen machte ihn zu einem leidenschaftlichen Lehrer; vielen Studenten war und blieb er sein Leben lang ein väterlicher Freund. Er beherrschte die begeisternde originelle und humorvolle Rede wie kaum ein Zweiter – Hans Asperger (wahrscheinlich der bekannte österreichische Kinderarzt und Heilpädagoge) charakterisierte ihn in dem genannten Gedenkheftchen mit dem Dichterwort: „Wir haben seinesgleichen nie gesehen!“ – Seine Kasperlpuppen-Inszenierungen, in denen niemand so überzeugend war wie er selbst, müssen legendär gewesen sein. Und eben weil für ihn das Wort genauso künstlerisches Material war wie Pinsel und Farben, besaß er zudem eine großartige schriftstellerische Gabe. – Ich selbst komme von der Bühne her und war hingerissen über seinen Aufsatz aus dem Jahre 1935 „Über das Wesen des darstellenden Kunstwerks“: Für mich gehört es zum Schönsten und Wahrsten, was ich über den Bühnenberuf je gelesen habe! Dieser Aufsatz findet sich ebenfalls auf der Internetseite www.archiv-swv.de, unter den Schriften Rudolf Szyszkowitz’ (bzw. hier).

 

Der Briefwechsel

1964 wird Rudolf Szyszkowitz auf Empfehlung des damaligen Landeshauptmanns Hans Lechner und nach ausdrücklichem Wunsche Oskar Kokoschkas zu dessen Nachfolger an die Salzburger Sommerakademie berufen, an der er neun Jahre lang das Seminar für Figurative Malerei leitet. 

Durch Dritte wurde uns bestätigt, daß Violanthe noch unter Leitung O. Kokoschkas drei Jahre lang das Salzburger Seminar besuchte: Im Nachlaß fand sich ein Photo, abgedruckt in einer Zeitung aus dem Jahr 1959, auf der eine Studentin im Profil deutlich einigen Aufnahmen aus früherer und späterer Zeit gleicht, die wir von der Künstlerin besitzen (siehe oben, im Kapitel Übersicht). – Von anderer Seite her ist mir dieser bislang unveröffentlichte Brief O. Kokoschkas vom 28. Mai 1944 aus dem englischen Exil überlassen worden. Er ist an Heinz Wolfgang Litten (1905-1955) gerichtet, den berühmten deutschen Theaterregisseur – und Bruder des ebenso berühmten Rechtsanwalts und Strafverteidigers gegen das NS-Regime Hans Achim Litten (1903-1938, KZ-Dachau). – Ein großartiges Dokument der Verehrung und Liebe Kokoschkas zur Kunst, zur Freiheit des Menschen, zum heiligen und künstlerischen Geist, der dem in Barbarei versunkenen Menschen den Weg weisen und ihn mit der nötigen Kraft versehen kann – und muß! – zu Befreiung und kultureller Revolution...

1964 – 36jährig – gehört Violanthe zur ersten Studienklasse von Rudolf Szyszkowitz in Salzburg. Er ist damals 59 Jahre alt und als ein angesehener Maler und Lehrer im österreichischen Staatsdienst seit fast 30 Jahren Professor an der Meisterschule für angewandte Kunst in Graz. Sein erster Brief an das „Fräulein Rappl“ ist datiert vom 26.12.1964, wenige Monate nach der ersten gemeinsamen Sommerakademie. Ausführlich beurteilt er darin einige Glastäfelchen, die Violanthe gemalt und ihm geschickt hatte, und er lädt sie für das neue Jahr wieder nach Salzburg ein: „... Das meiste davon hat mir auch recht zugesagt. In erster Linie die Gesinnung für die Echtheit der Ergriffenheit, die dem Gegenstand zugrunde liegt. ... Mein Lob gilt der Echtheit dessen, was zum Bild drängt – weswegen man wohl überhaupt aussagen will. ... Für das Jahr 1965 wünsche ich Ihnen Glück und Segen. Ein Maler braucht Ausdauer und Kraft und Weltanschauung. Das wünsche ich Ihnen sehr herzlich.“

Violanthe nimmt mindestens in den beiden folgenden Jahren wieder an der Sommerakademie in Salzburg teil; sie erhält 1965 und 1966 den Förderpreis der Stadt Salzburg für ausgezeichnete Leistungen im Seminar ‚Figurative Malerei‘, unterzeichnet auch von Prof. Szyszkowitz. – Ich gebe im folgenden besonders wertvolle Passagen aus seinen Briefen an Violanthe wieder:

15.01.1966:

...Die >zeitgenössische Internationalität< feiert Minderwertigkeitsorgien unter dem Deckmantel der Genialität. Die Kunst ist etwas ganz anderes als eine Reklamesache. Die echte künstlerische Arbeit muß aus der Freude der Entdeckung neuer äußerer Werte kommen. Das Glück, das wir beim Genießen der Dinge empfinden, muß Platz finden in der Aussage. Die Flucht ins Material allein treibt vom inneren Menschen weg. Das hektische Materialtraining versklavt den Maler (der als Sklave gar kein Maler mehr ist).

Ich schreibe Ihnen diese Zeilen, damit Sie nicht glauben, Sie müßten sich sehr querlegen, um Kunst fertigzubringen. Kunst bleibt jedes gute Bild. Mist bleibt jede Spekulation. Aber durch gläubige Hingabe an den Wert des Geschaffenen (sofern dieses von einem Talent erarbeitet ist) wird es immer ein ehrliches Dokument unseres Erdendaseins sein. Überall spuckt der Teufel in die Kochtöpfe der armen ‚Künstler‘, die ohne Teufel ganz gute Sachen zu machen verstünden. – Den Weg, den wir gehen mußten, wird ein Werk verantworten – jeder seinen Weg – der fängt beim Menschen an (tiefst innerlich) und nicht beim Bild. – Das Bild hat selbständig – aber nie isoliert zu sein. Das ist dann kein Bild.

Sie haben in dem, was ich von Ihnen kenne, einen gesunden und echten Weg hinter sich, lassen Sie sich nicht abbringen. Ihr Maßstab sind Sie und die Schöpfung um Sie. – Also, liebes Fräulein, gehen Sie ruhig und ernst Ihren Weg weiter. Verdichten Sie, abstrahieren Sie – aber seien Sie nie willentlich nichts, d. h. abstrakt oder dekorativ allein...

25.05.1966:

Liebes Fräulein Rappl!

Für Ihren Brief herzlichen Dank! – Sie wollen also wirklich nach Graz zur Prüfung in die Meisterschule. – Eine ‚Prüfung‘ für Sie ist im Grunde unnötig, aber da ich für meine 4 Aufbausemester an der Kunstgewerbeschule noch keinen Hochschulstatus besitze, muß ich mich an die Prüfung und den Termin halten. Sollte ich bis Weihnachten 1966 keinen Status bekommen, so gehe ich von der Schule weg. Dies ist mein vorläufiger zorniger Vorsatz...

18.09.1967:

...So wiederhole ich nun mein frohes Erstaunen über Ihre Verdienstmöglichkeit. Es wird ja auch freie schöne Stunden zur künstlerischen Arbeit geben, wo Sie ganz Sie selbst sein können. ... Ich habe an den Küsten der Adria etwas Erholung gesucht, war auch in Umbrien, alles bei schönem Wetter und habe die Meisterschule (unter Bedingungen) vorläufig mit 6 ordentlichen Schülern bis zum Semesterschluß eröffnet. Im Januar entscheidet sich’s, ob bleibe oder vorläufig ganz mich ins Atelier zurückziehe...

27.12.1967:

...Ich habe meinen Kampf um eine Ordnung in Graz soweit gebracht, daß ich nun nach Krach (von mir aus) ab Januar nicht mehr ins Meisterschulseminar gehe. Ich habe ein Ultimatum gestellt gehabt (Sie wissen’s) und nun ist der Stichtag gekommen. 32 Jahre habe ich an 150 Talente ausgebildet. Ist doch etwas. Salzburg hat Berufung für den Sommer geschickt. Ich habe sie angenommen.

Eben stellte ich 3 Porträts fertig. Das Weihnachtsfest ist schön gewesen. Ich war bei Peters zwei Kleinen [des ersten seiner drei Söhne] und die waren erquicklich. Die haben Kräfte und zuversichtliche Äuglein. Schön so was. – Solche Äuglein sind göttlich, und man kann sich nach diesen Blicken orientieren – das sind die rechten Wegweiser. Die rebellischen Kinderchen rauben viel Nerven – aber ihre Äuglein stärken das Herz...

14.06.1968:

Liebes Fräulein Rappl!

Nach viel Plackerei habe ich nun etwas mehr Luft und beantworte die Briefschulden. Ihre Holzbildnisse haben mir Freude gemacht. Sie sind gut komponiert. Etwas zu schwarz sind sie – vor allem zu fett gedruckt, d. h., es liegt zu viel Farbe auf dem Papier. Etwas schwebender wird das Bild, wenn Sie beim Aufwalzen sparsamer sind.

Ich danke für die Blätter. Es ist gut, daß Sie nicht locker lassen – es liegt aber in Ihrer Natur, daß Sie malen und gestalten müssen. – Was Sie über die Kinder schreiben, ist schön. Der Kontakt mit den Kleinen ist köstlich und regt enorm an. Mich hat der Geist der Jungen und Jüngsten in hohe Spannung gebracht. Schon der Anblick … kräftig. Ich hatte vom 5. Mai bis zum 17. Juli eine Vollakademieausstellung in Graz. Sie hat gut ausgesehen. Was sie bewirkt hat, weiß ich nicht abzuschätzen. Jedenfalls waren sehr viele Besucher drin. Fast alle Ölgemälde (40) sind aus fremdem Besitz beigezogen gewesen und nun habe ich das schöne Amt, sie alle wieder zurückzustellen – was Zeit und Fürsorge kosten. Graphik war viel ausgestellt (100 Blatt) – ein großer Teil aus dem Besitz der Steiermark. Landesgalerie Johanneum. Ich schicke Ihnen einen Katalog, daß Sie einen etwaigen Überblick über die Ausstellung haben. Viele Grüße und Segenswünsche Ihr Szyszkowitz.

PS: Etwas hat mein Protestabschied genützt: Es gibt jetzt eine Klasse für Freischaffende in Graz. In Salzburg werde ich wieder das Seminar leiten.

28.12.1970:

Liebe Jolanthe!

Heute, am 28.12., bekam ich Deinen Neujahrsbrief mit der bösen Nachricht von Deiner Krankheit – aber auch die Kunde, daß Du Dich in Genesung befindest. Ich wünsche Dir im Jahr 71, daß Du vollends wieder stark und arbeitsfähig wirst. ... Ich selbst habe in den letzten Monaten eine Anzahl hoher Persönlichkeiten gemalt... Es war eine geistreiche Plagerei. ... In Graz hat die Zerstörungswelle in der bildenden Kunst etwas nachgelassen und einzelne >Experten< besinnen sich, und tendieren auf Kunst ... und auf bindende Form, also >die abstrakte gibt es eigentlich nicht unbedingt.< Mich berühren diese Weisheiten nicht – und ich habe nur von einer Arbeit etwas, die meinen persönlichen Weg kennzeichnet und nicht verrät. ...

02.01.1972:

Liebe Jolanthe, für Deinen langen Brief danke ich Dir sehr. Er hat doch einiges geschildert, was Du dort durchzubeißen hast. Ärgerlich ist vieles im lieben Leben. Auch Peter, der hier an der pädagogischen Akademie für die Grundlagen der hochschulmäßigen Ausbildung der Lehrer verantwortlich ist, tut sich schwer. Die in Deutschland so grimmig vertheoretisierten Regeln gehen dem empfindsamen Kunstsinn auf die Nerven. Aus einem einzigen Satz von Paul Klee oder von Kandinsky schreibt so ein übergescheiter Hirnakrobat ein dickes Buch und findet damit Anklang, weil er ‚publiziert‘ – und aufs Publizieren kommt es an – damit ‚was geschieht‘. Ich hörte mir einen solchen Großvortrag in Graz an, der Vortragende kam aus Berlin. Eine öde platte und unkünstlerische Theorie, die mit dem Ursprung des Kunstwerkes nichts – gar nichts zu tun hat.

‚Publizieren‘ – das Gehirn zerstört bis in die letzten (Räume) die Kunst und die Seele des jungen Menschen. Wer hilft da weiter den Jungen, daß ihre Ansätze, die jeder Mensch im jungen Alter noch hat, noch aufkeimen können. Schrecklich. Der, aus dem das Wunder der Form kommt, ist aber doch immer da und wird da sein. Er versteht alles ... und fühlt alles. Das Vertrauen auf Diesen habe ich und werde es nie verlieren.

Solange man mich fragt und meine Erfahrung begrüßt, rate ich dem Talent, nur in Verbindung mit dem pulsierenden Leben zu bleiben – sie zu vertiefen: damit die Kunst herauswachse. Die Kulmination zur figurativen Kunst hat schon vielerorts mit aller Kraft eingesetzt. Über die menschliche Weise zu sehen und zu gestalten wird auch der spekulative Versuch vorschneller Gegenständlichkeit vom großen Schritt zertreten werden. Der Teufel versucht es eben auf viele Weisen. ...

12.11.72:

...Wie’s Dir wohl gesundheitlich geht. Viel Zeit für die Kinder? Es ist aber mit den Bildern allein nicht recht durchzukommen. Jedenfalls nicht geregelt und das macht nervös. Deine Arbeiten haben, gottlob, nichts besonders Nervöses an sich und das macht den Kunstwert fest. Romantikerin bist Du. In einem hohen Maß. Nicht so sehr in der Thematik als in der Weise, wie Du die Farben zu Sträußen hinzauberst und die Bildteile träumen lässest. Bleib wachsend dabei! In der >berüchtigten< kostspieligen Veranstaltung >Steirischer Herbst< in Graz zeigt sich, daß zum Modernsten wieder die Anbetung der Figur gehört. Natürlich schlecht in vielen Belangen, aber es will figural sein und menschlich dicht. Die Bilder haben mich zum Großteil sehr unangenehm berührt, ja vielfach ekelhaft. – Aber eines kommt klar heraus: der Mensch interessiert die Maler meist in hohem Maße – die Mittel aber, weil vielfach in letzten Jahrzehnten verschlampt, reichen in keinem Fall.

Ich weiß nicht, ob ich im kommenden Sommer noch einmal die Berufung auf die Festung annehmen werde. Ich habe mich zu stark darüber geärgert, daß man für die Endjury am Abschluß des Seminars eine Anzahl Kunstjournalisten aus allerlei Zeitungsredaktionen (‚international!‘) zugezogen hat und diesen Herren, obwohl sie nur einige Minuten im Aktsaal anwesend waren, eine volle Stimmberechtigung für die Preiszusprechung gegeben hat. Dadurch bin ich mit einigen in Streit geraten und habe einige heftige Äußerungen über die Qualität des Urteils eines Zeitungsreferenten nicht zurückhalten können. – Es wird bis zum Unerträglichen auf Schockwirkung hingearbeitet und geurteilt. Mich ekelt das an – da kann man nur mühselig von Mensch zu Mensch leiten. Der plumpen Menge ‚Kultur‘-Masse gegenüber nur die kalte Schulter zeigen.

Liebe Jolanthe, Dir kann ich nur raten, daß Du Dein schönes Talent unentwegt weiter pflegst und daran glaubst, daß gute Sachen nicht untergehen und wiederkommen, sollten sie eine Zeit lang nicht ‚aktuell‘ sein.

Herzliche Grüße auch von meiner Frau! Ich war mit ihr einige Wochen in Frankreich und drei in Italien. Es war schön aber enorm ungewöhnlich kalt. Dein Szyszkowitz.

Januar 1973:

Liebe Jolanthe,

Dein etwas trübsinniger Brief ist gekommen. Herzlichen Dank für die guten Wünsche. Wir wünschen auch, Du weißt, sehr viel Gutes. Einige Stellen hast Du in Deinem langen Schreiben, die Helleres aufblicken lassen. Man hat am Schluß Deiner zornigen Äußerungen (über Salzburg und den allgemeinen Kulturzustand) doch das Empfinden als ob Du in Vielem richtig ‚übern Berg‘ wärest. Es freut mich, daß Du Deinen erkannten Weg weitergehst und die unerschöpfliche Weisheit der Farbe und der Form um Dich gelten läßt. Diese Weisheiten betrügen nicht – endgültig. ... Ich glaube, daß ich mit meinem Jahrzehnt genug für Salzburg getan habe, und werde nicht unterschreiben. In Freundschaft Dein Szyszkowitz und Familie.

30.06.1973:

Dein Brief mit dem raschen Entschluß aus der vollzogenen Flucht aus Mülheim ist gekommen. Dank und Bewunderung verdienst Du für die Tapferkeit und für die gute Gesinnung, die hinter dieser Wanderung steht. Nun, alles Gute. Einen guten neuen Anfang der Lebensweise wünsche ich Dir. Es wird nicht leicht sein, sich wieder existenzfähig zu behaupten. Vederemo. [Ital. etwa: ‚Wir werden sehen.‘] Wie dort wohl der Kontakt mit Kunst und Kunstfreunden sein wird. Von was zehren? Du wirst aber wohl wissen, wieviel Du Dir leisten kannst. Das tägliche Brot wird’s wohl geben. Schwer stelle ich mir den Wohnraum zu bekommen vor – das Atelier, 2 Räume müssen’s wohl sein.

Einen richtigen ehrlichen Kontakt mit jemandem, der eine Ahnung von Bild und Form hat, müßtest Du finden. Wie steht es dort mit der nächsten größeren Stadt? Ganz ohne einen Kontakt mit einer Kunst-Ader ist man ja bewegungslos, was einen Verkauf anbelangt. Mit der Bemerkung, daß die allzu oberflächliche schmutzige ‚Avant-Art‘ ihrem Ende zugeht, hast Du recht. Auch ich bemerke allerorts diese Anzeichen. Ärgerlich ist mir seit je, daß alles was im Kern zur Genesung strebt, gelassen und langsam vor sich geht, – man aber doch von Tag zu Tag auf ein Brauchen eingestellt ist. Guten Bildern schadet das nicht – aber oft ihren Erzeugern.

Die Kuhwiesen und die Wälder – und, wie Du schreibst – die Nähe der Eifel gönn ich Dir von Herzen. So was nimmt die halbe Nahrung ab. Es ist richtig, daß der Mensch auch mit ganz wenig ‚Wichtigem‘ auskommt, wenn er das Wichtigste erkannt hat und empfindet und ihm dient.

Du fragst nach mir und meiner Stimmung. Es ist mir wohl, heuer nicht in Salzburg zu sein. Ich habe genug von dort (oben). Im Winter würd’s dort schön sein, wenn keine internationalen Herden herumkugeln. ... Herzliche Grüße und alles Gute. Berichte bald wieder. Herzlich Dein Szyszkowitz.

20.09.1973:

...Hast Du Dich eingelebt? Geht es überhaupt zu leben im irdisch realen Sein? – Bei Deiner großen Bescheidenheit dürftest Du schon eine neue Basis gefunden haben. – Daß Du, wenn Du künstlerisch arbeitest, gute Sachen machst, darüber habe ich keinen Zweifel. Ein Außenseiter bist Du – nur kann das aber im Laufe der Zeit die Qualität der Arbeit sehr geschützt haben vor dem Untergang. – Willst Du einmal in Graz eine Kollektion Graphik (z. B. Aquarell, was man ja auch zur Graphik zählt) ausstellen? Im Allgemeinen sind ja auch hier in Graz die Zustände um die Kunst sehr verworren und ohne Maßstab wie geistig-soliden Sinn. ...

Letzter Jahrestag 1973:

...Mögest Du Dich noch besser einleben in die Dir lieb gewordene Landschaft und möge Dir Deine Arbeit nach Deinen Vorstellungen gelingen. Jetzt ist es sicher, daß sich das Blatt gewendet hat – und die (wirkliche) Destillation aus der menschlichen Umgebung ihren Kunstwert immer dichter gewinnt und behaupten wird. ...

25.12.1974:

...Wir hoffen Dich gesund und der ärgsten Sorgen enthoben. ... Ohne Gott ist dieses Leben wahrlich ein Jammer. Mit Gott ist es erträglich. Das Malen ist ein schönes Brevier. Du hast gewiß schon wieder viel Schönes geschaffen. Bleib gesund und freue Dich, daß nach dem Winter die Blumen wieder aus der Erde kommen werden. Mit allen guten Wünschen grüßen Dich Dein Rudolf, Frau und Söhne.

Ein Jahr später, am 06. Januar 1976, stirbt Rudolf Szyszkowitz an Magenkrebs.

 

Konzeptionell-künstlerischer Kontext

Die Persönlichkeit Rudolf Szyszkowitz’, seine Ausstrahlung und künstlerisch-spirituelle Weltanschauung muß von dem jugendlich-suchenden Wesen und der all dieser Anregungen so bedürftigen Seele Violanthes wie Manna aufgesogen worden sein – hatte sie doch bisher nichts so sehr entbehrt als eine wahrhaft gelebte Liebe zum Menschen und zur Natur, und war doch auch in ihr gerade die Wahrheit vom Wirken übergeordneter Mächte hinter allen äußeren Formen aufgegangen. Die unter vielen Schichten von Zweifeln und Abwertungen wie verbotene Geheimnisse gehüteten Empfindungen und Fragen erhielten plötzlich Bestätigung – von einem geachteten und spürbar glaubwürdigen Menschen, Meister, Künstler und Mann. Endlich empfing Violanthe die dem eigenen Lebenskosmos entsprechende Resonanz, der doch um vieles größer war als die dürftige Welt, in der sich ihre bisherigen Bezugspersonen bewegten. Nichts hat auf die jugendliche Seele, auf das ganze Sein und Anschauen des jungen Menschen größeren Einfluß als eine aufrichtige Persönlichkeit von herausragendem Format, ein Vorbild von beeindruckenden geistigen, inneren und äußeren Fähigkeiten. Der junge Mensch sucht nichts so sehr als diesen Maßstab, an dem er sein eigenes Denken, Handeln und Urteilen ausrichten kann. Die Faszination, die von einem unabhängigen unkonventionellen Verhalten ausgeht, sofern es den revolutionären oder rebellischen Empfindungen im Herzen eines jugendlichen Schöpfergeistes beistimmt, kann von keiner allgemeinen ‚Schule oder Ausbildung‘ ersetzt oder übertroffen werden. In diesen Begegnungen und Beispielen emulgieren die individuellen inneren Rohstoffe mit den bereits veredelten Legierungen der Meister zu den Persönlichkeitssubstanzen und originären Ausdrucksmitteln, auf die der Schüler lebenslang wird zurückgreifen können, die ihn lehren, sich selbst zu erkennen und sich unverwechselbar mitzuteilen.

Über das symbiotische Wechselverhältnis zwischen Meister und Schüler hat der deutsche Lyriker und klassische Philologe Franz Emanuel August Geibel (Pseudonym: L. Horst, 1815-1884) einen kleinen Vers gedichtet (hier aus dem Münchner Dichterkreis I, Spätherbstblätter, Sprüche 3):

Des Schülers Kraft entzündet sich am Meister;
doch schürt sein jugendlicher Hauch
zum Dank des Meisters Feuer auch.

Auch für Violanthe wurde Professor Szyszkowitz – wie für so viele bedeutende Künstler und Menschenpersönlichkeiten seiner Zeit – zum ‚Spiritus Rector‘ ihres ausdrucksfähigen Wesens. Auch an ihr vollzog er das Erweckungs- und Einweihungsritual zu der künstlerischen und humanistischen Persönlichkeit, als die sie unbeirrt gewirkt hat. 

In der von Szyszkowitz geleiteten Sommerakademie ging es ihm – wie in vielen Dokumenten belegt – vor allem darum, „seine Schüler im bildnerischen Erfassen der Erscheinungswelt bis zu jenem Grad zu begleiten, auf dem sie dann zur Erschaffung einer zweiten, höheren Natur in der Kunst befähigt sind.“ – „Ich lasse“, so schrieb er 1964, „von Anfang an nur mit Pinsel und Farbe arbeiten, und leite allmählich von der gebrochenen Farbe zur vollen Palette über.“

Hauptthema des Salzburger Unterrichts war, wie Hans Lechner in der schon genannten Gedenkschrift für Professor Szyszkowitz berichtete, die Darstellung der menschlichen Figur sowie das Erfassen des Volumens der Körper mittels Farbe: „Bevorzugte Technik ist das Aquarell, weil es zu raschen Entschlüssen zwingt, keine Korrektur zuläßt und daher höchste Aufmerksamkeit erfordert.“ Dies waren die Grundlagen, die zur nachfolgenden Selbstausbildung und Verwirklichung der schöpferischen Freiheit des Künstlers befähigen sollten. Die Affinität Szyszkowitz’ zum Theater erfährt auch in seinem didaktischen Konzept der Verdichtung und gestalterischen Dramatisierung der Bildwerke ihre Bestätigung: So berichtet Karl Wolf in eben dieser Zusammenkunft zahlreicher Weggenossen und Freunde zum Andenken an Rudolf Szyszkowitz, daß seinen Werken immer auch gewisse abstrakte Elemente innewohnten, jedoch nie ohne höhere Sinngebung: „Die Figuren sind so entwickelt, daß sie nicht auf bestimmte Personen hinweisen, sondern auf den Menschen überhaupt oder den Vater, die Mutter, das Kind, den Liebend-Leidenden in abstracto, das heißt, alle Liebend-Leidenden sind mitgemeint.“

Bestimmend bei Szyszkowitz ist das ausgeprägte Gefühl für den reizvollen Spannungsmoment, den er vermittels kontrastreicher Übergänge oder gebrochener Kompositionsformen zu erzeugen versteht – genauso, wie ein Schauspieler oder Regisseur seiner Darstellung oder Inszenierung mit verschiedenen dynamischen Wechseln Attraktivität zu verleihen wissen sollte, um dem Adressaten die vorgetragenen Motive so leicht und reich wie möglich eingängig zu machen. Diesen künstlerischen Anspruch bewältigt Szyszkowitz, indem er die realen Erscheinungen zum Ausgangsmaterial nimmt und in Symbole ihres geistigen Ursprungs und damit in mystisch erfahrbare Bildnisse überträgt. Ich zitiere Ernst Matthäus Fürböck, abermals aus dem Neuland-Heft zum Gedenken an R. Szyszkowitz:

„Die Gegenstände, die Formen und Farben dieser fast ‚gegenständlichen‘ Bilder erfaßt in ihrem Sinn nur der Betrachter, der nicht am Gegenständlichen hängen bleibt, sondern dieses in seiner Ebenbildlichkeit begreift, so wie ja der mystisch veranlagte Mensch auch die Dinge der realen Außenwelt in ihrer Symbolkraft für die ‚innere Welt‘ zu erkennen versucht.“

Fürböck stellt seinen Betrachtungen den tiefsinnigen Satz des deutschen Paläontologen und Theosophen Edgar Dacqué (1878-1945) voran: „Das Leben ist für unseren, nur die äußeren Formen vergleichenden und danach seine Begriffe bildenden Verstand so jenseitig, daß wir immer auf der Außenfläche, immer in einer Spiegelung des Daseins bleiben, wenn wir nicht symbolisch sehen können.“

Dieses initiatorische Moment für jeden Künstler und jedes echte Kunstwerk – mit dem Gegenstand tief zu verschmelzen, um sein überirdisches Gleichnis heben und darüber eine diesseitig Verherrlichung darbieten zu können für das unaussprechliche Wunder und Mysterium der uns umgebenden gottbeseelten Schöpfungsvielfalt – so wie es R. Szyszkowitz auf seine Schüler zu übertragen verstand, wirkte auch in der nach dieser Wahrheit hungernden Seele Violanthes wie der Lebenskuß Gottes selbst, mit dem Er auch jedem anderen Ding zu Existenz verhilft…

In der Kunst hat die individuelle Wiedererkennbarkeit lediglich untergeordnete Bedeutung; vielmehr zielt sie in ihrer höchsten Form auf die Wiedererkennbarkeit der höchsten Formen – des Allgemeinen, Typischen, Archetypischen einer Situation oder eines Objekts. Das Unpersönliche – Universelle – überstrahlt das Persönliche – Individuelle. Nicht die einzelne Person oder ihre private Befindlichkeit ist vordergründig interessant, sondern der ganze Mensch in dieser Person ist gemeint, die universelle personale Erscheinung der ganzen Tiefe und Weite seiner Existenz. Der Künstler ist und darf sein: Schüler und Verkörperer dieser großen Aufgabe – die äußeren Bilder und Gestalten des Daseins und seiner selbst zu Sinnbildern und Symbolgestaltungen zu transformieren, zu transzendieren – sie in Form und Inhalt an ihren Ursprungs- und Hinwendungshorizont anzunähern.

1930 erschienen in der Mappe „Zehn Gleichnisse“ im Wiener Verlag F. Baumgartner die ersten Reproduktionen von Radierungen, Zeichnungen und Ölgemälden Rudolf Szyszkowitz’; im Geleitwort zu diesem Heft schrieb Dr. Anton Böhm über die Gleichniskunst dieser Bilder:

„...Der Horizont, aufstrahlend im Frühlicht oder verdämmernd in der Abendweite, ist allgegenwärtiges Symbol für die Endlosigkeit unseres Daseins. Es ist, als ob hinter diesem Lichtrand, den das Auge sucht, die Weite läge, der wir zustreben, wir Wanderer in die Ewigkeit. Es ist das Lebensgefühl des Christen, das hier im Bilde gestaltet ist. Religiosität ist hier nicht die weltfeindliche Leidenschaft einer zerquälten Seele wie bei vielen anderen Expressionisten; aber auch nicht die kindlich-naive Frömmigkeit des Heiligenmalers: Es ist die Leben und Gestalt ganz durchformende Einsicht in den Sinn des Menschentums hinauszustreben über das Irdische, in das Wesen der Verbundenheit ewigen Schöpferwillens mit aller Kreatur in den tragischen Ernst der Existenz, auf der das Gewicht einer Entscheidung für die Ewigkeit lastet. Das verleiht diesen Bildern und ihren Menschen die wunderbar duldende, tiefe Ruhe. Kein Leid, kein Glück kann den entwurzeln, der den Sinn erschaut.“

Den problematischen Kindheitserlebnissen zum Trotz kämpfte sich Violanthes Empfindungsverständnis immer tiefer und tiefer an die ihr zugänglichen Grundwahrheiten heran und extrahierte aus ihnen Essenzen universaler Erkenntnis. Die Entbehrungen, Abweichungen von unseren Bedürfnissen, die Widerstände, entgegen unserer Sehnsucht, sie sind es, die uns zu höherer Verwirklichung und zum Wachstum auf allen Ebenen unseres Daseins antreiben. Und weil die letzten Wahrheiten universell sind, nicht von Konventionen oder Konfessionen zu entstellen, weil sie am Urgrunde aller Herzen – auch in unterschiedlichen Sprachen – gleich klingen, deckte sich die edle spirituell-konzeptionelle Sicht- und Gestaltungsweise Professor Szyszkowitz’ vollkommen mit den in Violanthe so frisch aufgekeimten Seins- und Wirkungserkenntnissen – und gab ihnen Sprache, Begriffe, Maßstäbe und Ausdrucksmittel an die Hand. Auch in ihr war längst das Bewußtsein aufgegangen – oder konnte es ihrer Seele schon niemals mehr abhandenkommen? –, daß jeder Einzelne ein Teilchen des Ganzen Herrlichen Bewußtseins GOTTES ist und alle Menschen zusammen Seinen LEIB bilden. Alles, was geschaffen ist, deutet auf dieses große Wunder und seine überwältigende Idee hin: WIR SELBST ERSCHAFFEN GOTTES REALITÄT – die wir nach ‚unserem Bilde und Maßstab‘ zu gestalten haben, sofern wir diese Lehre in uns zur Anerkennung bringen und uns dieser höchsten Architektur aktiv zuwenden. Jeder Gegenstand dieser Welt, jeder Gedanke, jeder Moment, jedes Wort ist Ausdruck dieser Wahrheit – Gleichnis, Symbol, Entsprechung, Darstellung dieser Wahrheit.

In Konsequenz führten solche Betrachtungen zur vornehmsten Einsicht und heiligsten Direktive, die all unsere Handlungen zu bestimmen und die auch als bedeutendste Anforderung an jede menschliche Existenz zu gelten hätten: die künstlerischen Anlagen jedes einzelnen Talentes zu heben und Voraussetzungen herzustellen, unter denen es befähigt wäre, seine physischen, geistigen oder musischen Begabungen voll zu entfalten und zu vervollkommnen! – Wilhelm Freiherr von Humboldt (1767-1835), preußischer Gelehrter, Staatsmann, Mitbegründer der Humboldt-Universität zu Berlin, Bruder von Alexander von Humboldt, in: Briefe an eine Freundin, 26.06.1832: „Die Entwicklung aller Keime aber, die in der individuellen Anlage eines Menschenlebens liegen, halte ich für den wahren Zweck des irdischen Daseins, nicht gerade das Glück.“ – Im Ergebnis wirkte dieser eine Maßstab auf alle anderen Maßstäbe förderlich ein. – Welche Bemühung also wüßte uns mehr zu dienen als die Arbeit an der Verfeinerung unseres Bewußtseins und die Einrichtung und Pflege der dazu notwendigen materiellen und geistigen Bedingungen – oder besser noch wie es der belgische Surrealist René François Ghislain Magritte (1898-1967) sagte: „Kunst ruft das Geheimnis wach, ohne das die Welt nicht existieren würde.“ – Gerade die Kunst ist es – die wahre Kunst, die sich an einem unverfälschten Anspruch, an der Ausbildung, an der Erhöhung und Vollendung des menschlichen Geistes und der menschlichen Fähigkeiten und Tätigkeiten orientiert –, die uns in diesem Sinne zu erkennen und zu verstehen helfen muß: ‚Laßt euch von meinem inneren Bilde anrühren – auf daß ihr erkennt und versteht…‘ Und diese Fähigkeit selbst gilt es zu verfeinern: die Mittel und Technologien zu ordnen und zu spezialisieren, die diese Übertragung aus dem eigenen Inneren auf das fremde am eindrucksvollsten, am unmittelbarsten und empfängnisreichsten ermöglichen.

Zu einem solchen ersten ‚wahren Kunsthistoriker‘, der diesen Maßstäben zu genügen und ihnen nachzustreben versuchte, wurde Johann Joachim Winckelmann (1717-1768), der als Archäologe und Grabungsleiter als erster Ausländer die Oberaufsicht über die Antiken in Rom haben sollte. Er ging in seinen Untersuchungen von der ‚materiellen Bekanntschaft‘ mit seinen Forschungsobjekten aus, verwandte präzise Beschreibungen als Erkenntnismethode und betrieb eine strikte Systematisierung seiner Forschungsgegenstände. 1755 veröffentlichte er in Dresden seine erste Schrift: „Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauer-Kunst“, der er in späteren Neuauflagen weitere Texte hinzufügte. Schon darin sind jene wesentlichen kunstästhetischen Gedanken enthalten, die er auch in sein Hauptwerk „Die Geschichte der Kunst des Altertums“ (in 2 Bänden) übernehmen wird, das 1764 erscheint. Hier beschreibt er sowohl den chronologischen Ablauf einer Kunstgeschichte der Antike als auch das System der griechischen Kunst selbst, entwickelt Kriterien einer ‚Ästhetik des Schönen‘ und diagnostiziert und definiert den ‚klassischen Stil‘, den er zum Maßstab seiner Beurteilung erhebt. Zwar steht auch bei ihm zunächst die Suche nach dem ‚äußerlich Geschmackvollen‘ im Vordergrund seiner Untersuchungen; auf ersten Exkursen jedoch in die Sphären des ‚ideellen Schönen‘, das sich zumeist hinter unauffälligen Fassaden zu verbergen versucht, vermögen bald auch ‚innere Werte‘ seinen rezeptiven Blick auf sich zu ziehen, wie z. B. eine ‚edle natürliche Einfalt‘ oder ‚stille Größe‘. Winckelmann stellt stets den Bezug von der künstlerischen Vergangenheit in die Gegenwart her und steht mit vielen anderen zeitgenössischen Künstlern (wie z. B. mit Anton Raphael Mengs) in regem Austausch. (Vgl. ggf. auch: Europäische Kulturepochen.)

Der Wunsch und die Fähigkeit des Menschen, die ihn umgebende Welt abzubilden und zu beschreiben, ist urgrundtief in seinem Wesen verankert – und hat all die grandiosen Kulturleistungen gezeugt, aus denen wir heute unsere ästhetischen und visionären Projektionen und Konzeptionen beziehen und ableiten. In der technischen und inhaltlichen Entwicklungsgeschichte der Malerei, begonnen bei den Verfahren zur Reproduktion und Fixation einer äußerlichen Welt, über die Konzeptkünste wie den Expressionismus, den Formalismus und die Abstraktion bis hin zum sogenannten Ultrarealismus, der mit den Mitteln der Malerei photorealistische Werke herstellt, stehen die Bilder Violanthes in einer klassischen Tradition und greifen zugleich avantgardistische Impulse auf. Kriterium zur Einordnung der substantiellen Bedeutung eines Kunstwerkes war und ist die kompositorische Ebenenvielfalt und die spielerische Komplexität, die sich in ihm offenbaren und zu einer ästhetischen Einheit verwoben wurden. Diesen gestalterischen Anspruch kennzeichnen auch die Bildwerke Violanthes: Stets schließen sie dem Betrachter Bewußtseinsebenen einer nur mittelbar zugänglichen, ungegenständlichen Welt auf und bieten ihm seelische Zugänge zu ihnen hinauf.

Beliebte Streitpunkte in der künstlerischen Rezeptionsgeschichte: ‚Ist Kunst das Gegenteil von Natur oder ist sie >Natur transzendiert<, unsere sinnliche Erfahrung erweiternd und so überhaupt erst in >Überhöhung der Natur< als ein Metaphysisches (>Übernatürliches<) unserer Erfahrungswelt Wahrnehmbares, uns >hypervernunftmäßig< Zugängliches…?‘ Und: ‚Ist >Naturalismus< Antipode der Kunst, dagegen >Artistik< ihr >Ideal<?‘ Oder: ‚Hat die Kunst impressionistisch oder expressionistisch zu sein, soll sie einen >Eindruck< vermitteln oder >Ausdruck< sein und haben, >Eindruck machen<?!‘ Und auch: ‚Ist der wahre künstlerische Ausdruck >höherer Intelligenz< vorbehalten, ist der Künstler der begabtere, der >feinere, gebildete<, der, welcher in sich >höhere Fähigkeiten< entdeckte oder entwickelte (>Kunst und Kultur< als Synonym der >Zucht, Pflege, Bebauung, Erziehung, Bildung, Fortpflanzung< im Sinne der Gesamtheit der geistigen und künstlerischen Lebensäußerungen einer Gemeinschaft)?‘ Oder auch so: ‚Kann Kunst überhaupt etwas bewirken oder ist sie nicht eher nur ein >elitärer Zeitvertreib<, sowohl für ihre Produzenten als auch ihre >Konsumenten<?‘ – Wäre die ‚Kunst‘ nicht so ‚gefragt‘, alle diese Fragen stellten sich nicht... Offensichtlich liegt dem ‚künstlerischen Drang‘ der Lebewesen (auch das Tier ‚tanzt, malt, singt, baut, liebt und erzieht…‘) ein zwingendes Bedürfnis zugrunde – ihre Welt zu verfeinern, zu gestalten, zu interpretieren. Oder dürften wir von ‚Kunst‘ nur als bewußtem Akt sprechen, der einer bestimmten intentionalen Absicht folgt und diese veranschaulicht? Bei genauerem Hinsehen zeigt sich vor allem eines – wie so oft: Alle unsere Tätigkeiten, Gedanken, Schöpfungen, Projektionen sind Ausdruck der Natur selbst – sich selbst reflektierend, auf jede nur denkbare oder fühlbare oder spekulative oder abstraktive Art… Émile Zola (1840-1902), der berühmte französische Romancier, Schriftsteller und Journalist, der, wie wir wissen, innerlich ein wissenschaftlicher Advokat gewesen war, sich zum literarischen Anwalt und Sozialethiker, zum Laboranten und Naturforscher berufen sah und ausbildete, bringt es in seiner berühmten ‚Definition der Kunst‘ auf den Punkt, indem diese „…die Natur gesehen durch ein Stück des persönlichen Temperamentes“ sei, „der natürliche Blick“ also, der alle subjektiven Färbungen zunächst ausblendet und einzig die Natur, wie sie ist, wahrnimmt – um dann allerdings in voller Leidenschaft eines schöpferisch-originellen Charakters dieser ‚objektiven‘ Betrachtung den persönlichen Ausdruck hinzuzufügen, ihn ‚künstlerisch‘ wiederzugeben... Und dieser Grundimpuls geht durch die Abermilliarden Geschöpfe, die die Natur hervorgebracht hat; sie alle kreieren ihre eigenen Modelle, ihrer eigenen künstlerischen Ideale, oder reifere oder unreifere Abweichungen oder präferentielle Variationen davon… In dieser Hinsicht haben auch alle von uns aufgeordneten ‚Epochen und Stile‘ ihren ureigenen und gewissermaßen gleichberechtigten Wert – indem sie Vorkünste und Ideengeber der jeweils folgenden waren und werden... Für jedes Wesen gelten andere Impressionen und faktische Bestimmungen als wesentlich; in jedem Wahrnehmungsorgan bilden sich ‚Welt und Natur‘ anders ab. In der ‚primitiven‘ Höhlenkunst – die nach neuesten Studien viel älter als bisher angenommen ist, mindestens nämlich 115.000 Jahre alt, wodurch auch belegt sei, daß schon der Neandertaler zu symbolisch-artifiziellen Leistungen und Darstellungen fähig war – mag uns vor allem der Reiz der ‚absoluten Originalität‘, des ‚Unschuldig-Ursprünglichen‘ ergreifen, ungeachtet jedes fehlenden ‚ästhetischen Anspruchs‘, den wir Heutigen an ein ‚Kunstwerk‘ setzen wollten… Tatsächlich jedoch gibt jede ‚Höhlenmalerei‘, wie auch jedes ihr folgende Artefakt, lediglich einen einzigen ausgesuchten ‚historisch-individuellen Abdruck‘ wieder, den der Künstler aus der unendlich komplexen Wirklichkeit, wie er sie wahrnimmt, wie sie ihn umgibt und ausmacht, aufgegriffen und herausgestellt hat. Denken wir nur an die große Zahl hochsensibler Menschen, denen es einfach nur an Selbstsicherheit, an Mut oder künstlerisch-instrumenteller Sprache fehlt, ihre Impressionen in ‚Expressionen‘ umzuwandeln... Und doch wäre womöglich gerade ihr Werk ‚das Jahrhundertwerk‘, weil es einen Geist und ein Gefühl zu Ausdruck brächte, die wie nichts anderes den historischen Moment in seiner momentanen Befindlichkeit am anschaulichsten repräsentierten. An dieser Defizitanalyse wird sichtbar, daß die eigentliche und höchste Kunst etwas Unsichtbares ist, sie in den meisten Fällen (leider) tatsächlich sogar unsichtbar bleibt, und daß die sichtbare Kunst immer genau das auszudrücken hätte, was auf dieses Unsichtbare hinweist – um ihm Sprache zu verleihen. Wenn der Affe unfähig ist, in unserem Vokabular ein Sonett zu verfassen, so wissen wir doch nicht, ob er es in seiner Sprache nicht längst schon getan hätte... Vermag das Tier ein Ereignis vorauszuahnen und sich entsprechend zu verhalten, ich wüßte nicht, warum ich diese Meisterschaft nicht ebenso ‚künstlerisch‘ nennen dürfte, die offenkundig in das Unsichtbare vorzudringen ‚weiß‘ – zumal dem Menschen gerade diese Fähigkeit immer mehr abhandenzukommen scheint! – Dazu in vollem Gegensatz und jenseits solcher ‚Rezeptionswerte‘ stehen die kommerziellen ‚Maßstäbe der Kunst‘: Hier wird ‚Zeitgeist‘ vielmehr nur markttauglich arrangiert, interpretiert, interpoliert, zelebriert – völlig losgelöst von jeder ‚objektiven‘ Deutungshoheit, die es, näherungsweise, ja nur für die Einzelpersönlichkeit geben kann, die über ein fundiertes holistisches Weltbild und geistig-emotionale Unabhängigkeit verfügte...

21.08.2019, Alte Nationalgalerie, Berlin:
…wir stehen vor der Skulptur von Gustav EberleinDer Dornauszieher“ – und was sofort auffällt: die Präzision in der Gestaltung, in den Proportionen, den Linien, in der Haltung und natürlichen Darstellung aller Körperteile! … Genauigkeit der Ausführung in jeder Nuance: Als reine Technik gilt das für die Bildende Kunst ebenso wie für den Tanz und das Schauspiel: Je präziser/genauer/bewußter die einzelnen Gestaltungs- und Ausdruckselemente gehandhabt/vorgetragen/ausgeführt werden, desto beeindruckender – egal, ob das Dargestellte ‚konzeptionell‘ unsere Zustimmung findet: wesentlich ist die Bewußtheit, die Brillanz des Vortrags (Verweis auf den allgemeinen Form-Inhalt-Diskurs/-Streit)… – Einige Schritte weiter die Skulptur von Auguste Rodin „Der Mensch und sein Gedanke“, entstanden um 1899: ‚Der Mensch‘, ein betagter bärtiger Mann – und aus seinem Munde ‚entströmt‘ ein kindhaftes Neutrum, zart, unschuldig – ‚Der Gedanke‘. Das Paar entsteigt dem grob belassenen Felsblock, so daß Körperteile, Füße, Hände im rohen weißen Marmor noch verborgen bleiben. Diese unbehauene Masse Stein – wir assoziieren: ‚die wuchtig-monumentöse Welt‘. Aus ihr, aus der harten, gewalthaften Felsstruktur gebiert der Mensch den verletzlich-feenhaften Gedanken – indem er ihn ‚wachküßt‘ und/oder ‚ausspricht‘… Das Zusammenspiel/die Zusammengehörigkeit von ‚Unbehauenem‘ – und den aus dem Unbehauenen heraustretenden/herausgearbeiteten ‚Gestalten‘… Der alte Mensch denkt, und er denkt sich einen jungen, ein kindliches Wesen, denn der Gedanke wird ‚neu geboren‘, in Unschuld und Reinheit, vielleicht sogar mit Flügeln, hier noch verborgen (und/oder gefangen?) im Stein… Wir hören den entsprechenden Beitrag über den Audioguide der Nationalgalerie: „Aus einem wuchtigen Marmorblock schält sich langsam und noch nicht vollständig erkennbar eine kindliche Figur heraus, zart, wie neugeboren, verkörpert sie den Gedanken, den der Mensch mit einem Kuß zum Leben erweckt. So wie eine Idee erst allmählich Form und Gestalt annimmt, so entsteht auch dieses Wesen aus der Masse des unbehauenen Steins. Auguste Rodin macht mit dieser Skulptur einen gar nicht darstellbaren Vorgang sichtbar, nämlich das Denken. Aber auch der alte Traum des Menschen kommt zum Ausdruck: toter Materie Leben einzuhauchen und sie zu beseelen, wie es im antiken Mythos vom Bildhauer Pygmalion erzählt wird, dessen Statue zu Leben erwacht. Für Rodin lag in vielen Dingen eine verborgene geheime Macht… Dadurch, daß die Figuren angedeutet bleiben, wird der Prozeß des Entstehens verdeutlicht. Rodin erhob so das Fragment zu einem eigenständigen Ausdrucksmittel der Kunst…“ – Stehend nun vor anderen Bildern, in einer anderen Halle: Wie oben bewundernd zum Ausdruck gebracht, gilt zur Beurteilung bildnerischer Werke zumeist als allgemeines Kriterium die ‚Genauigkeit in der Ausführung‘: ‚Ist die Hand präzise wiedergegeben, vollführt sie eine natürliche Geste, stimmen die Proportionen, steht der Fuß stabil auf dem Boden oder ist er nur als etwas Unförmiges zu vermuten, hebt er sich als lebendig von seinem toten Untergrunde ab…?‘ usw. – Hier ist nun aber das ganze Gegenteil von solcher ‚Genauigkeit‘ zu sehen – und ‚beweist‘ damit, wie wenig dieses eben noch zur Referenz erhobene Merkmal tatsächlich über ‚Wert und Unwert‘ in der Kunst ‚ent-scheidet‘! Jetzt tritt vielmehr die ‚konzeptionelle Idee‘ als wesentlich hervor – und die Frage nach der präzisen Ausformung von Hand oder Fuß zur Einstufung des Kunstwerkes/Kunstwertes in den Hintergrund – woran deutlich wird: Der Sinngehalt, die geistige Empfängnis/Auslegung, die sich durch das Kunstwerk vermittelt – erst sie stiftet die lebendige Vermählung zwischen Form und Inhalt, sofern beide auch zu einer dieser ideellen Intention ent-sprechenden EINHEIT finden, vermittelt im Gesamtausdruck/als Gesamterscheinung… – Nun stehend vor Arnold Böcklins „Die Toteninsel“: Hier auffällig die strenge Komposition/Ästhetik, die dieses Bild dominiert. Das Motiv eher romantisch und naturalistisch – aber die Art der konzentrierten/konstruierten/konturierten Gestaltung verleiht ihm eine unübersehbare, ‚unüberhörbare‘ ergreifende Magie. Andere Bilder Böcklins weisen eher ins Naturalistische, fast Photorealistische. An dieser Ambivalenz/Zwiespältigkeit in den Vorlieben oder Ausdrucksarten ein und desselben Künstlers läßt sich nochmals sehr gut auch der Widerstreit in den Kunsttechniken allgemein dokumentieren – der auch in den Darbietungsformen aller Bühnenkünste ausgetragen werden muß, deren künstlerische Besonderheit bekanntermaßen ja darin liegt, unwiederbringlich zu sein: Naturalismus ist keinesfalls minderwertig: die ‚genauen Hände‘ und ‚Faltungen einer Seele‘ abbilden zu können ist eine große Begabung! Aber mittels der Ästhetik, der Kompositionstechnik, vermittels der Fähigkeit, mit den geheimen und verborgenen Gesetzen der inneren und äußeren Harmonie spielen, diese ‚verkörperlichen‘ zu können – das erst verleiht dem Auszusprechenden eine überirdische, zauberische Ausstrahlung, hebt das ‚Natürliche‘ auf die Ebene des ‚Künstlichen‘ = Künstlerischen/Symbolischen, macht das Werk zu etwas ‚Besonderem‘, indem es nun über der Natur/dem Naturalistischen steht… – Jetzt endlich vor den Bildern von Claude Monet, Édouard Manet und vor Gustave Caillebottes „Rue de Paris“: Betrachtet man ihre Arbeiten nüchtern, wie ‚unter der Lupe‘, so erscheinen ihre Maltechniken relativ unprätentiös, unspektakulär: Ohne große ‚Geheimnistuerei‘ haben sie ‚solide produziert‘ – aber: ihre Kunst besteht eben darin, durch diese einfachen Zeichnungen (hin-durch) ebenso ‚blank‘ ein inneres Gefühl zu übertragen – das uns ihre unmittelbaren Eindrücke, Befindlichkeiten, in ihren Zeiten, an ihren Orten wider-spiegelt! Sie öffnen uns einen ‚Zeittunnel‘ – hin zu ihren ureigenen Empfindungen/Impressionen. In ihren Schöpfungen haben sie uns Gefühle damaliger atmosphärischer Momente konserviert… – Das in etwa ist überhaupt der mindeste Ansatz zu jeder wahren Künstlerschaft: die existentiellen Grundthemen des Menschen aufzugreifen, sie emotional zu Ausdruck bringen zu wollen, egal ob musikalisch, bildnerisch, tanzend oder spielend, dichtend oder dokumentierend – und dabei sich möglichst schweren/schwierigen Sujets zuzuwenden…

Mit Beginn des 20. Jahrhunderts entwickeln sich eine Reihe neuer ästhetischer Stilrichtungen, die sich gegen die Auffassungen und Darstellungen des Naturalismus wenden, jenem Epochenbegriff, der mit seiner Gestaltungsart sowohl die Literatur als auch die Malerei und bildende Kunst für die Zeit etwa von Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts geprägt hat. Während es die Naturalisten hauptsächlich vermieden, zwischenmenschliche oder gesellschaftliche Konflikte zu thematisieren und sich eher idealistischen, edel-altruistischen Arrangements und Sujets zuwandten, setzen sich Impressionismus (beginnend um 1860), Symbolismus und Expressionismus (beide zwischen 1880-1910), Kubismus (ab 1907 bis etwa 1920), Futurismus (1910) und Surrealismus (ab 1920) allmählich von der Darstellung einer möglichst anschaulichen, eindringlichen und sinnbildlichen Realität ab. Sie erschließen sich neue Ebenenvielfalten, indem sie ganz bewußt unterschiedlichste inhaltliche oder ästhetische Blickpunkte auswählen oder sie appellativisch (im Sinne einer konzeptuellen Strategie) hervortreten lassen. Doch in allen ihren Ansätzen nehmen diese neuzeitlichen Stilrichtungen schon den Existentialismus vorweg – der sich als die bedeutendste kulturästhetische Ausdruckform für das erste Drittel des 20. Jahrhunderts erweisen und durchsetzen wird – sowohl literarisch als auch bildnerisch. Ganz allgemein gesprochen wendet sich der Existentialismus der Unfaßbarkeit, der Fragwürdigkeit und aller anderen Probleme zu, die sich mit der Existenz des Menschen als Subjekt auftun. Im Grunde jedoch kulminiert in dieser Bild- und Schriftphilosophie nur das gesamte frühere Gedankengebäude unseres großen deutschen Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling (1775-1854) und bindet alle seither durchlebten Kultur- und Stilepochen, von der Romantik über den deutschen Idealismus, vom Naturalismus und der Naturphilosophie bis zur Identitäts- und Existenzphilosophie (Existentialismus), wie mit einem Bande und in einen Rahmen zusammen – ebenso umfassend wie Schellings Philosophie selbst; vgl. hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Wilhelm_Joseph_Schelling. Insbesondere in seiner Transzendentalphilosophie reichert er bereits die thematische Essenz jener späteren existentiellen Konzeption an, die sich den geistig-materiellen Widersprüchen innerhalb des menschlichen Daseins und Lebens widmen: Das Dasein oder Sein des Menschen werde durch seine „Geschichte des Selbstbewußtseins“ bestimmt, dem eine reflexive Subjekt-Objekt-Beziehung zugrunde liege und auf diese Weise stets ein „eigenes Handeln“ und „ewiges Werden“ sei; eine derartige Selbstobjektivierung gipfele im Idealfall im „reinen Selbstbewußtsein“, wobei sich der Mensch über die unmittelbare Erscheinungswelt erhebe, indem er sie transzendiere (vgl.: SW I, 365-382). Aber auch schon der dänische Philosoph, Theologe und Schriftsteller (1813-1855) Søren Kierkegaard und weit davor noch der französische Mathematiker, Physiker und christliche Philosoph Blaise Pascal (1623-1662) griffen in ihren „Gedanken“ diese höchst menschlichen und heiklen Fragen auf: Wie sollen, wie können wir leben, angesichts unserer natürlichen Bangigkeiten und all der anderen Bedrohungen, die das Leben bereithält und im Grunde sogar bestimmen? Diese dominierenden Gewalten, Zwänge und Gefühle sind es – und speziell dabei die Bezugnahme und Reaktion des Menschen auf sie –, die im Existentialismus von Künstlern und Philosophen zum Thema erhoben werden: Wie verhält sich der Mensch als aufgeklärtes Wesen – gefangen zugleich in existentiellen und uranimalischen Reflexen und Bedürfnissen? Im Zentrum dieser ‚Selbstauseinandersetzung‘ steht der uralte Anspruch, die ‚Wahrheit‘ entschlüsseln, sie finden, ihr folgen zu wollen; denn ob nun noch von der scholastischen Metaphysik oder schon von der neuzeitlichen Aufklärung in Aussicht gestellt, damals wie heute offeriert sie die höchste Wahrscheinlichkeit, in die Nähe jenes Zustandes zu gelangen, der uns Glück und Zufriedenheit verheißt – angesichts all des Unglückes in der Welt und aller Not und Dürftigkeit und Unzumutbarkeit unserer fragwürdigen und verletzlichen Existenz. Nicht mehr der Glaube an eine von Gott – unveränderlich – gesetzte Ordnung und unausweichliche Abfolge und ‚Vorsehung‘ bestimmen die praktischen und konzeptionellen Denk- und Handlungsschemen des in der Gegenwart erwachten Menschen, von nun an können und müssen alle mythologischen Ordnungsgesetze durch sinn- und bewußtseinsbildende Selbstorganisation ersetzt werden: Der Mensch hat sich als selbst-bestimmtes Wesen erkannt, das sich in Anerkenntnis auch seiner ihn umgebenden und ihn zwingenden Grundverhältnisse selbst Normen und Handlungsmuster setzt – setzen kann, setzen sollte. Damit aber wird er wiederum auch von der Erkenntnis seiner Verantwortung überwältigt – die ihn wiederkehrend fordert, sich allen ihm zugänglichen und zu beeinflussenden Aspekten und Themen seines Daseins ganz zu stellen. Zukünftig kann und darf er nicht mehr ‚höhere Mächte‘ zu Verursachern seiner Umstände erklären; er selbst steht vor der Wahl seiner Entwicklung – seiner Existenz. Er verläßt damit nochmals und ihn wiederholt beanspruchend den philosophischen Raum der Unschuld… Alle bisher verdrängten und unbeherrschbaren Aspekte und Komplexe fordern jetzt seine Betrachtung, seine Beachtung, seine Verantwortung, sein Pflichtgefühl: Wie begegnet er zukünftig der eigenen und der Angst des anderen, der eigenen unerlösten Gewalt gegen das Leben und gegen andere, den Abgründen seiner Begehren, und der in ihm nach Freiheit und Erfüllung rufenden Liebe und Sehnsucht?

Versuchen wir uns vorzustellen, wie sich den Philosophen und Künstlern die Welt im allmählichen Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert dargeboten haben muß: als ein vollkommen überhitzter und glühender Schmelztiegel, in dem nicht ein einziges Element des bisher Bekannten nicht vollständig aufgekocht und zerkocht und in seine Bestandteile aufgespalten worden wäre – ‚Spektralanalyse‘ und ‚Atomzertrümmerungen‘ stehen hier sinnbildlich für die ungeheuren Umwälzungen, denen sich der Mensch an der Schwelle zur Moderne gegenübersah. Plötzlich brachen enorme Energien auf – physisch wie psychisch –, von denen niemand vor kurzem auch nur ahnte. Und das menschliche Wesen fand sich umgeben von einer ihm vollkommen fremden Welt – voller neuer ‚abnormer‘ Kräfte, Gewalten, Möglichkeiten und Aussichten. Alles Gewohnte löst sich auf – und muß neu zusammengesetzt werden… Endgültig tauscht das Weltgesicht – und der Weltgeist – seine vorindustrielle Maske und setzt, teuflisch-grinsend, seine imperialistische auf; endgültig und restlos verläßt der magische Zauber des Unbekannten das Welttheater, der bisher noch der menschlichen Existenz fromme Zurückhaltung gebot – und gibt die Bühne frei zur vollständigen Dekonstruktion aller ehemals geltenden Normen, Formen und Konturen: Die ‚Impressionen‘ (lat. franz. = ‚Eindruck‘: sowohl im Sinne einer ‚Wahrnehmung‘ als auch einer ‚Verletzung‘!) überschlagen sich – und drängen und finden technisch wie künstlerisch zu ihrem Ausdruck. Und zugleich oder zwangsläufig setzt unmittelbar und parallel zur existentialistischen Phase in der Philosophie und bildenden Kunst, die das aufklärerische Moment zum zentralen Anspruch und zur zentralen Aussage erheben, eine Gegenbewegung zu dieser gegenständlichen und ästhetischen Moderne ein: eine bis ins Totalitäre reichende Ablehnung dieser geistigen und emotionalen Überforderung, eine zwanghaft-drängende Rückwendung und Rückbesinnung auf ‚das Alte‘, das beherrschbare Vertraute – jene ‚klassische Tradition‘, in der die überlieferte Ordnung (Beständigkeit) und Reinheit (Ursprünglichkeit) galt und gilt. Denn tatsächlich wird mit dem ‚Fortschritt‘ auch seine Dekadenz, seine ‚Entartung‘ und der Verfall alles Tradierten sichtbar, und zwar so sehr, daß sich alle neuen Strömungen und Denkrichtungen und Empfindungen und Zwänge praktisch unvermeidbar radikalisieren mußten – als Reaktion auf nicht mehr zu beherrschende innere und äußere chaotische Zustände, auf die revolutionären Lebenseinbrüche, die die Menschen überfordern – und schließlich kulminieren: 1. und 2. Weltkrieg folgen…

Analog der gesellschaftlichen Entwicklung, mit ihren aufbrechenden existentiellen Problemstellungen, vollzieht sich auch ein künstlerischer Umbruch: Diese immense Provokation – hervorgerufen durch die immer größer werdenden Distanz zwischen der bisher (relativ) beständigen Identität des Menschen innerhalb seiner natürlichen, naturnahen Daseinsverhältnisse und den unumkehrbaren und radikal-umwälzenden Eingriffen der Moderne in sie, durch die er mehr und mehr von seinen gewohnten Lebensbedingungen abgetrennt wird und ihnen und sich selbst zu entfremden beginnt – erweckt auch in der Kunst eine ‚phänomenologische Betrachtungs- und Gestaltungsweise‘: das Gegebene als eine uneindeutige Erscheinung aufzufassen, hinter denen komplexe Sach- und Bedeutungszusammenhänge wirken, die den Künstler wie den Betrachter zu sinnlich-analytisch-intentionaler Auslegung zwingen – mithin also zu einer Verdeutlichung (und Ver-Dichtung) der uns, soweit als möglich, zugänglichen Ursachen- und Ebenenvielfalt: Der reinen Abbildung tritt die künstlerische oder rezipierte Interpretation hinzu. Nach der klaren oft aber auch kantigen Kontur der Renaissance, der Zeit der kulturellen Umbrüche schon zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert, leitet die Barocke, das Spätbarock und das folgende Rokoko, im 16. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, bereits in ‚dialektische Bewußtseinsräume‘ und ‚atmosphärische Erfahrungen‘ über und sendet dem späteren Impressionismus, dessen gestalterische Ausdrucksformen den analytischen des Existentialismus entsprechen, erste platonische Ideen und geheimnishafte Übertragungen voraus. Bis zu seiner vollständigen Geburt hat er aber noch die Licht- und Farbbrechungen des dekorativen Rokoko und die Strukturanalytik des Klassizismus, nach dem griechischen Vorbild, in sich einzuarbeiten. Dann jedoch, im Erleben, Erkennen und Handhaben aller dieser suggestiven und dabei doch wieder auf das Natürliche zurückweisenden Elemente und Empfindungen, tritt er vor den bloßen äußerlichen Abbildungen als farb- oder wortgewordene geistige Extraktion ins Licht – und macht Stimmungen, Töne, Düfte und Gefühle sichtbar, läßt das Metaphysische und Unbewußte aufleben. – Von Édouard Manet (1832-1883), dem berühmten französischen Impressionisten und Wegbereiter der Moderne, ist ein wundervoll charakteristischer Ausspruch überliefert, nicht nur den Impressionismus selbst betreffend sondern auch sein persönliches Oeuvre: „Es gibt nur eine Wahrheit: sofort das auszuführen, was man direkt wahrnimmt. Denn wenn etwas da ist, ist es da. Und wenn es nicht da ist, fängt man noch einmal von vorne an. Der Rest ist Schwindel.“ – Wir haben hier das französische Original aus der „Kulturgeschichte der Neuzeit“ (Beck’sche Verlagsbuchhandlung 1931, Bd. III, 5. Buch, S. 393) von Egon Friedell (eigentlich: Egon Friedmann, 1878-1938), dem österreichischen Universalgenie – Journalisten, Schriftsteller, Dramatiker, Kulturphilosophen, Theaterkritiker, Schauspieler, Kabarettisten und Conférencier – entnommen und übersetzt. Und Friedell selbst wenige Zeilen darunter weiter:

„Aus der Nähe betrachtet, ist der Impressionismus ein neuer Sieg des französischen Sensualismus und seiner Reversseite: des cartesianischen Rationalismus. Er tut mit höchster Virtuosität genau dasselbe, was Descartes [1596-1650] vom philosophischen Denken verlangt hat: er zerlegt die gegebene Realität in ihre Elemente, die Objekte in ihre letzten Bestandteile und setzt sie dann auf die >richtige< Weise wieder zusammen; er analysiert und konstruiert. Beides sind mechanische Tätigkeiten; aber ebenso wie bei Descartes erhebt die Subtilität und Präzision, Kraft und Fülle, mit der sie gehandhabt werden, sie zum Range eines geistigen Prozesses. Gleichzeitig triumphiert im Impressionismus das neue Ideal des >ouvrier< [franz. ‚Arbeiter‘], dessen eine Talenthälfte in der stupenden Genauigkeit und Zähigkeit der Arbeit besteht, wie es sich schon in Balzac und Flaubert vorgebildet findet. Damit beurkundet sich der Impressionismus als legitimes Kind des industriellen und technischen Zeitalters. In einer >Rede an die Jugend<, die er in den neunziger Jahren hielt [»1890], sagte Zola: >Ich hatte nur einen Glauben, eine Kraft: die Arbeit. Mich hielt nur jene ungeheuere Arbeit aufrecht, die ich mir aufgegeben hatte… die Arbeit, von der ich zu Ihnen spreche, ist eine regelmäßige Arbeit, eine Lektion, eine Pflicht, die ich mir gestellt habe, um in meinem Werke täglich, wenn auch nur um einen Schritt,  vorwärtszukommen… Arbeit! Bedenken Sie, meine Herren, daß sie das einzige Gesetz der Welt ausmacht. Das Leben hat keinen anderen Zweck, keinen anderen Existenzgrund, wir alle entstehen nur dazu, um unseren Anteil an Arbeit zu verrichten und dann zu verschwinden.< Das heißt: die Erde ist eine Riesenwerkstätte und die Seele eine Dampfturbine. Das Prinzip der Erhaltung der Energie hat sich als letzte Domäne nun auch die Kunst erobert.“

Wie nun „die Rationalisierung und Verwissenschaftlichung in der Kunst ihren Höhepunkt“ erreicht und „wie bei Zola der Dichter sich zum Sozialstatistiker, Lokalreporter, Gerichtspsychiater, Vererbungsbiologen macht, so wird hier [im Impressionismus, Neoimpressionismus und Pointillismus] der Maler zum Spektralanalytiker, Chemiker und Experimentalpsychologen.“ (Friedell, S. 469.) Auch hier avanciert der Gegenstand mehr und mehr zum Labor- und Naturobjekt, wird in seine tiefen Urgründe aufgelöst und gewinnt dabei eine neue Perspektive: des konturierten Geistes, der Abstraktion oder Essenz hinter der Erscheinung, des Wesens des Gebildes an sich, soweit uns zugänglich, befreit von jener (jeder) Form, die sich auf äußerliche Mittel reduziert. Diese Mehrdimensionalität in der bildnerischen Darstellung, die von nun an vor allem die Tragödie des modernen Menschen in seiner psychischen und physischen Verlorenheit und Verletzbarkeit in den Mittelpunkt stellt, hat die gesamte künstlerische Entwicklung des 20. Jahrhunderts bestimmt und geprägt.

Ich erwähle hier vier herausragende Meister dieser Zeit, um in Kontraposition ihrer künstlerischen Werke und Wirkbereiche, die ihnen zu Weltruhm verhalfen, auch die Arbeiten Violanthes konzeptionell einzuordnen und auszurichten. Ich möchte dabei die Gemeinsamkeiten, die sie alle in Technik, Ästhetik und inhaltlicher Fragestellung miteinander verbinden, aber auch ihre unterschiedlichen – insbesondere ideellen – Ansätze herausarbeiten und miteinander vergleichen. Chronologisch soll der spanische Maler, Graphiker und Bildhauer Pablo Picasso (eigentlich: Pablo Ruiz Picasso, 1881-1973) diese Gegenüberstellung anführen: Er ist der älteste, der erste und auch berühmteste – aus jener expressiv orientierten Moderne, aus der nach dem Impressionismus alle ihm folgenden Stil- und Ausdrucksformen der Neuzeit hervorgehen werden: der Kubismus (ab 1907, der Futurismus (ab 1909), der Konstruktivismus (ab 1913), der Dadaismus (ab 1916) und der Surrealismus (ab 1920) – bis hin zu ersten Formen des Abstrakten Expressionismus’ (ab 1940, hauptsächlich in Amerika). Des weiteren sollen der italienische Maler und Graphiker Giorgio de Chirico (1888-1978), ein Hauptvertreter der Metaphysischen Malerei, die ein Vorbote des sog. Surrealismus war, der Schweizer Bildhauer und Maler Alberto Giacometti (1901-1966), ein klassischer Vertreter des Kubismus, des Surrealismus und Existentialismus, und der irische Maler Francis Bacon (1909-1992), der zu den expressivsten (und mittlerweile ‚teuersten‘) Malern des 20. Jahrhunderts zählt, das schöpferische Quartett vervollständigen – in deren Gegenüberstellungen jeweils auch die programmatische Entwicklung und künstlerische Methodik Violanthe Rappls deutlicher hervortreten kann:

Der Umfang von Picassos Gesamtwerks wird auf 50.000 Arbeiten bzw. Entwürfe und Skizzen geschätzt – dagegen hat Violanthe keine 1.000 Bilder/Entwürfe gemalt, von denen etwa 450 Arbeiten erhalten sind, und kaum 50 Kleinplastiken und Installationen gestaltet. Allein aus dieser Fülle von Objekten läßt sich auch die enorme Vielfalt der von Picasso im Laufe seines Lebens praktizierten und angewandten Handwerke, Ausdrucksstile und Kompositionsweisen erahnen – keine Darstellungsform, die sich bei ihm nicht wiederfindet, und sei es nur in einzelnen und bald wieder verworfenen Ansätzen. Insofern darf es nicht als Herabwürdigung verstanden werden, wenn wir darauf verweisen, daß unter Picassos Arbeiten – insbesondere im Vergleich mit Violanthes experimentellen Proben – auch sehr viel ‚Dilettantisch-unvollendetes‘ zu finden wäre... Der Punkt jedoch, auf den es ankommt: inwieweit Person und Ausführung den Zeitgeschmack und das Zeitverständnis der eigenen und nachfolgenden Generation treffen – oder erst einer viel späteren Rezeptionserkenntnis begreifbar werden, wie etwa bei Vincent van Gogh (1853-1890) geschehen, der, wir wissen es, zu seinen Lebzeiten so gut wie kein einziges Bild verkaufen konnte – ähnlich übrigens wie Violanthe, die zwar einige wenige Bilder veräußert hat, niemals jedoch, um von diesen Verkäufen leben zu müssen… Insonderheit für den ‚Kunstmarkt‘ tritt als wesentlicher Aspekt zur ‚Bewertung‘ eines Werkes noch der Bekanntheits- und Verbreitungsgrad hinzu... In Picassos Darstellungen subsumieren sich zahlreiche Formen der allgemeinen Kunstgeschichte: Er widmet sich religiös-sakralen und mythischen Themen, Gegenständen der primitiven und opferrituellen Kunst, Aspekten der Malereigeschichte, wie auch individuellen bis profanen Themen: den Fragen und der Suche nach seinem persönlichen und künstlerischen Selbst oder den Darstellungen seines Privatlebens. Auch kopiert Picasso andere Maler oder frühere Meister und läßt sich freimütig von ihnen thematisch und gestalterisch inspirieren.

Immer wieder auffallend, wie in der Rangrezeption einzelner Kunstwerke die jeweiligen Kriterien völlig divergieren können: Legt man einer künstlerischen Bewertung im allgemeinen in der bildenden Kunst, gedacht sowohl für die Skulptur als auch für die Zeichnung oder das Gemälde, die Feinheit der Ausführung, insbesondere z. B. der Hände, des Gesichts, der Landschaft oder des allgemeinen Ausdrucks zugrunde, so gilt im Besonderen genau das Gegenteil: Je abstrakter, je symbolischer die Ausführung, desto ‚bedeutender‘. Auf Picasso trifft dieses Paradox beispielgebend zu: Eine ‚feingliedrige Ausführung‘ ist seine Sache nicht – dafür aber das stilistisch-prägnant Ikonographisch-Verfremdete. Hier tritt der Bedeutungsaspekt vor den Darstellungsaspekt (wie auch das umgekehrte Verhältnis wirken kann, wenn es das Verhältnis bedeutend umkehrt – wobei sichtbar wird, wie schwer das eine vom anderen tatsächlich zu trennen oder zu unterscheiden ist): Hinter den äußeren Gestaltungen offenbaren sich innere Beziehungszusammenhänge, sie überlagern jetzt die äußeren Mittel (oder umgekehrt). Je höher beide Erzähltechniken entwickelt, je mehr sie sich bedienen – ohne zu konkurrieren –, desto eindringlicher und ‚wirkmächtiger‘ das Gesamtkunstwerk… Ebenso wie Violanthe thematisiert Picasso sowohl persönlich-menschliche Konflikte als auch die großen weltanschaulichen Fragen. Seine Bildsprache wendet sich vom natürlich-gegenständlichen Ausdruck ab – auf der Suche nach Analogien, die das Existentielle auszudrücken vermögen, um aus dem morbiden, empörend-abgründigen Dasein das Abstrakt-Wesentliche zu extrahieren… Zugleich finden sich, ähnlich wie bei Violanthe, viele oft fast kindlich-naiv wirkende Darstellungen und vieldeutige Gestalten, die aus sich selbst hervortreten oder zu mehrdimensionalen Figuren verschmelzen… Auch Violanthe malt ‚Ungeheuer‘, überträgt das Unbewußte oder Unerlöste aus ihrem eigenen menschlichen und künstlerischen Wesen und ihrer Wahrnehmung in verschlüsselte Zeichen, die auf das tiefe Unerklärliche und Unentwirrbare hinweisen, das uns hält und zwingt… Es entstehen metaphorische Darstellungen – mindestens 85 Arbeiten Violanthes gehören zu den ‚Metaphern‘… Picasso malt ein Tagebuch seiner Krisen; Violanthe verarbeitet und übersetzt ihre kindlichen und seelischen Konflikte in Texte und Bildzyklen… In Picassos ‚Guernica‘, der Illustration eines weltgeschichtlichen Dramas, kämpfen sinnträchtige Fabelwesen gegen das Grauen der Welt und erliegen zuletzt doch der Gewalt des Krieges… Auch Violanthes Arbeiten wenden sich in Mehrzahl dem ersten und ursächlichen ‚Drama der Weltgeschichte‘ zu: der Entfremdung des Menschen von seinen heiligsten und urinnersten Bestimmungen… Tausende Fragmentstudien, Strich- und Tuschezeichnungen finden sich bei Picasso – ähnlich wie sie Violanthe angefertigt hat, und wie sie wohl jeder Künstler zu seiner Orientierung, Schulung und inspirativen Einkehr entwirft…

Die Überhöhung ist ein klassisches und beliebtes Stilmittel in der Kunst: Zum einen abstrahiert, verallgemeinert sie einen Vorgang, erhebt ihn zu einem ‚generellen Begriff‘, wodurch der Gegenstand auch an ‚Plastizität‘ gewinnt, zum anderen hilft sie, die gewöhnlichen banal-realistischen bzw. naturalistischen Ausdrucksformen bewußt zu überschreiten. Während Picasso oft mißgestaltete oder deformierte Leiber malt, die Ungeheuern, Medusen oder Kentauren gleichen, verzichtet Violanthe weitestgehend auf die körperliche Entstellung als Ausdrucksmittel für Grausamkeit oder alptraumhafte Verdammung. Bei ihr steht die menschliche Entartung stets im Hintergrund – einer sinnbildlich verzerrten Außenwelt, die die Geschöpfe gefangen hält und unter deren Macht- und Gewaltmechanik sie sich immer mehr von sich selbst und ihren Brüdern und Schwestern entfremden. Hier schlägt die Brutalität in symbolischen Formen der Verführung, der Sucht, der Eitelkeit, der Dummheit und Gleichgültigkeit auf sie ein, entstellt sie innerlich, zeigt sie in ihrer Krankheit, ihrer Bösartigkeit, in ihrer Abhängigkeit und Ohnmacht. Aber wie Picasso greift auch Violanthe gern zum Mittel der Simultandarstellung – und setzt dem verlorenen Menschen entweder seinen Dämon oder seinen Schutzengel an die Seite…

Picasso hinterläßt auch ein literarisches Werk: Kommentare zu seiner Kunst, seiner Lebenshaltung, zwei Theaterstücke und zahlreiche Gedichte. Auch in diesem Punkte gibt es Parallelen zu Violanthe – die ihre künstlerischen und selbstbiographischen Gedanken in eigene Schriften übertragen und herausgegeben hat. Obwohl es Picassos Leben und Werk gegenüber nicht an Kritik mangelt, er bezöge oft nur uneindeutig politische und weltanschauliche Haltung, so kann sein Hauptwerk unmöglich losgelöst von seinen gesellschaftskritischen Positionen betrachtet werden: Ähnlich wie Violanthe Rappl, welche die von der Moderne verursachten menschlichen Entfremdungserscheinungen zum Hauptgegenstand ihres Wirkens erhebt, zeugen auch Picassos Arbeiten von seinen politischen Auseinandersetzungen mit seiner Zeit und ihren kriegerischen Exzessen. – Uns wäre kein aufrichtiger Künstler denkbar, der sein Werk nicht der Befreiung und schöpferischen Erneuerung des Menschen und der ganzen Menschheit gewidmet hätte: Auch Picasso verstand sich als politischer Künstler, dem die Unterscheidung oder Trennung zwischen Kunst und Politik völlig absurd erschien (zitiert aus: Charles Harrison, Paul Wood, als Herausgeber: „Kunsttheorie im 20. Jahrhundert – Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews“, Verlag Gerd Hatje, Ostfildern-Ruit, 1998, S. 777):

„Was, glauben Sie denn, ist ein Künstler? Ein Schwachsinniger, der nur Augen hat, wenn er Maler ist, nur Ohren, wenn er Musiker ist, gar nur eine Lyra für alle Lagen des Herzens, wenn er Dichter ist, oder gar Muskeln, wenn er Boxer ist? Ganz im Gegenteil! Er ist gleichzeitig ein politisches Wesen, das ständig im Bewußtsein der zerstörerischen, brennenden oder beglückenden Weltereignisse lebt und sich ganz und gar nach ihrem Bilde formt. … Nein, die Malerei ist nicht erfunden, um Wohnungen auszuschmücken! Sie ist eine Waffe zum Angriff und zur Verteidigung gegen den Feind.“

Auch Violanthe Rappl war eine hochpolitische, gesellschaftskritisch engagierte Künstlerin, die sich ihren Intentionen und ihrer Weiblichkeit gemäß nur anders ausdrückt (zitiert aus: Violanthe Rappl, „Eine Kampfschrift gegen die moderne Kunst“, Haag und Herchen, 1994):

„Wie das einseitige rationale verstandesmäßige Erfassen unseres Daseins zu einem alles zerstörenden Ungeheuer geworden ist, spürt inzwischen fast jeder. Die Faszination an explosiven Erfindungen unseres Jahrhunderts, die rasanten Entwicklungen und all das Machbare sind uns jedoch zum Drachen geworden. … Nur, damit haben wir die Aufmerksamkeit ganz ins Äußere verlegt. Praktisch könnte man sagen, an den Rand unserer Existenz. Und die Welt der Gefühle, der sozialen Fähigkeiten, die Wahrnehmung aller Geschöpfe, die Zuwendung zum anderen, das Mitleiden und Mitfreuen, das Verstehen und die Verständigung sind verkümmert, führen ein minimales, unterentwickeltes Dasein.“

Ein vernehmlicher künstlerischer Protest gegen alles ‚Entartete‘, gegen alle ‚formal-abstrakten‘ Modernismen, die ihrer selbst willen lediglich ‚auffallend‘ sein wollen und keinen bestimmten Bezug zu den substantiellen – expressiven = ausdruckswesentlichen – aufrichtigen Grundmotiven eines ehrlichen Künstlers suchen und herzustellen vermögen, eine derartige Rückbesinnung auf die klassische Tradition formierte sich bereits während des ersten Weltkriegs: ‚Konfusion und Chaos führen in die Zerstörung; Reinheit und Ordnung sollen nun wieder das Fundament zu geistiger, gegenständlicher, gesellschaftlicher Entwicklung und Erneuerung bilden‘, so könnte das humanistische und künstlerische Ideal dieser Zeit geklungen haben. – Hinzuweisen wäre hier neben der politischen Spaltung zwischen Frankreich und Deutschland auch auf ihre künstlerischen Fehden: Frankreichs bildnerische Idealisten dieser Zeit verstanden sich als ‚Bewahrer und Vertreter‘ eines antiken künstlerischen Vorbild und Hüter der kulturellen Tradition – in bewußtem Gegensatz zum ‚deutschen Barbarentum‘, das seit den Perserkriegen mit der Vorstellung des ‚Ungebildeten, Grausamen und Rohen‘ verbunden war. – Weil sehr geeignet und überaus dicht, erlauben wir uns hier, eine kurze Passage aus Picassos Wikipedia-Eintrag (2018) zu übernehmen: „Die Rückbesinnung vollzog sich auch in anderen romanischen Ländern: so in Barcelona im Noucentisme, den Picasso 1917 bei seiner Spanienreise kennenlernte. In Frankreich bildeten sich zwei entgegengesetzte künstlerische Lager heraus. Das eine, mit dem Hauptvertreter Fernand Léger, versuchte, die formalen Errungenschaften des Kubismus mit den Formen der Klassik zu verbinden, um die Kunst politischen Zielen dienstbar zu machen. Das andere, mit Picasso als Hauptvertreter, folgte der unmittelbaren Auseinandersetzung mit den klassischen Werten. Die Wiederbelebung des Klassizismus in Picassos Werk war die Folge.“

Haben wir oben auf die metaphorische Zeichensprache hingewiesen, die zur wesentlichsten Ausdrucksart Picassos gehörte und die auch die bedeutendsten Bildwerken Violanthe Rappls charakterisiert, so entsteht fast von selbst die Verbindung zu unserem zweiten Maler, dessen Wirken wir unserem konzeptionellen Vergleich hinzufügen wollen: Giorgio de Chirico. Von der ‚Metaphorik‘ zur ‚Metaphysik‘ ist der Sprung bzw. die Extraktion nicht allzugroß: Wenn die Metaphorik für das Darzustellende oder zu Erzählende ein Sinnbild schafft, das Namenlose oder Unsagbare in einen anschaulichen ‚verständlichen‘ Ausdruck überträgt, so versucht die Metaphysik die ersten oder letzten Gründe dieser Erscheinungen philosophisch zu fassen… Chirico gilt als der Hauptvertreter der ‚Pittura metafisica‘, der sogenannten ‚Metaphysischen Malerei‘, aus der wiederum die surrealistische Malerei hervorgegangen ist, wie wir sie etwa aus den Werken ihrer bekanntesten bildnerischen Vertreter kennen: Salvador Dali, Max Ernst, René Magritte. Im Vergleich zu Picasso findet sich das Wirken Chiricos auffälliger in methodischen und inhaltlichen Ansätzen im Produktionsprozeß Violanthes wieder: Wie Chirico, dessen größerer Teil seines früheren Schaffens in traumähnlichen Stadtansichten bestand, greift auch Violanthe dieses Sujet nicht nur immer wieder auf, sie komponiert ganze Serien surrealer Städtelandschaften, denen das träumerische Element und eine multiperspektivische Konstruktion eigen sind. (Vergleiche dazu nur die vier Bilder aus der ‚Salzburger-Serie‘, wie sie sie nannte, die in ihrer Sitzecke hingen; einzeln und verstreut im Ordner ‚Metaphern‘ zu finden). Wie bei Chirico so treten bald auch bei Violanthe Uhren, Geschirre, zerlegte oder zersprungene Einzelteile, fliegende Augen, entstellte Dämonen und Menschengesichte den Arrangements hinzu, brechen die Kompositionen zu mehrdimensionalen und transzendenten Sphären auf, stellen sich die Orte, Personen, Akte und Welten in eine unwirklich-wirkliche, in eine zwanghaft-surreale Beziehung zueinander. Das auch war ein Grundmotiv Chiricos: die künstlerische Phantasie der magisch-imaginären Welt der Metaphysik zu öffnen, dem ‚Hyperraum‘ und der Tiefendimension also, in denen alle Erscheinungen transzendent – seelisch-übersinnlich – miteinander verwoben sind… Bevor sich Chirico stilistisch bis dahin vom überwiegend surreal-imaginären Charakter seiner Werke abwendet (etwa ab 1919) und sich an einer mehr realistischeren oder auch ‚akademischeren‘ Malweise orientiert, hat er eine Zeitlang (etwa von 1915 bis 1925) vorrangig Stilleben gestaltet. Violanthes Interesse galt eher den gegenständlichen Sujets: inspiriert und abgeschaut von der Natur oder den magisch-verwobenen Lebensumständen – weswegen sie kaum mehr als zehn oder zwanzig ‚klassische Stilleben‘ gemalt haben dürfte (hauptsächlich zu finden unter den ‚Monochromen‘). In seiner letzten Schaffensperiode (etwa ab 1930) entfernt sich Chirico inhaltlich immer weiter von seiner früheren ‚erfolgreichen‘ metaphysischen Ausdrucksart, beginnt das pseudoakademische Element in der modernen Malerei auch öffentlich zu kritisieren und versucht dieser Entwicklung in seinen Spätwerken durch einen bewußt pathetisch-klassizistischen Stil zu trotzen. Weil jedoch die finanzielle Resonanz dafür ausbleibt, kopiert und verkauft er zusätzlich frühere Werke. Auch wenn die Kategorien hier ineinander überfließen: Jenen rezeptionsgeschichtlichen Stellenwert, den in Chiricos Werken seine metaphysischen Darstellungen einnehmen, dürfen bei Violanthe ihre metaphorischen Bildkompositionen beanspruchen: Nicht nur, daß diese zahlenmäßig einen großen Teil ihres Oeuvres ausmachen, unter ihnen finden sich auch ihre eindringlichsten, ihre schönsten, ihre stärksten Schöpfungen.

Wenden wir uns dem Schaffen der beiden verbleibenden prominenten Künstler des 20. Jahrhunderts meiner Auswahl zu, vor deren Wirken auch die Bedeutung der Lebenswerke der Malerin Violanthe Rappl (1927-2014) konzeptionell und künstlerisch anschaulich hervortreten möge: dem Schweizer Bildhauer und Maler Alberto Giacometti (1901-1966), einem klassischen Vertreter des Kubismus, des Surrealismus und Existentialismus, und dem irischen Maler Francis Bacon (1909-1992), der, wie oben schon gesagt, zu den expressivsten (und mittlerweile ‚teuersten‘) Malern des 20. Jahrhunderts zählt. Auffällig: bei beiden dominiert ein Thema, ähnlich wie bei Violanthe, zuletzt dort jedoch mit einer anderen Perspektive: die menschliche Isolation und Selbstentfremdung. Alle drei nun erfassen und entwerfen anstelle eines äußeren Abbildes ein Sinnbild des Menschen und reduzieren Figuren und Zustände auf wesentliche Aussagen. Der Aufbau ihrer Arbeiten folgt stets relativ einfachen symmetrischen Prinzipien, sowohl in den szenischen Einzelbildnissen als auch in den Bildkompositionen. Alle drei Künstler nehmen bestimmte Motive immer wieder auf, wie sie sich auch in ihren künstlerischen Verfahren ähneln: Nach ausführlichen Studien zum menschlichen Körper entwickeln sie vergleichbare technische Imaginationsmittel, um die Ambivalenz, Ebenenvielfalt und Entstellung des Menschen und der Situation, in der er sich befindet, zu verdeutlichen: Durch das Verwischen, Verschmieren, Tupfen und Spritzen von Farbe zu zufälligen oder gewollten Überlagerungen verschwimmen alle statuarischen Körper zu einem physisch-lebendigen System, dessen Verletzbarkeit, Durchlässigkeit und Abhängigkeit sichtbar wird – und damit letztendlich aber auch seine Menschlichkeit... Francis Bacon malt den Schrei – um das Entsetzen dahinter aufzulösen…

Aus ähnlichem Grund verweigern sich zu großen Teilen auch die Arbeiten Violanthes bewußt jeder Verklärung oder Beschönigung – um ebenso bewußt die innere Betroffenheit und Reflexion zu provozieren: Als Antwort auf die häufigsten Einwände gegen ihre Kunst, sie verbreite Schwermut, stoße den Betrachter ab und versetze ihn in trübsinnige Stimmung, hätte sie sicher ohne Zögern mit dem Satz der deutschen Musicaldarstellerin, Chansonsängerin, Schauspielerin und Malerin Ute Gertrud Lemper (*1963) geantwortet, sofern er ihr bekannt gewesen wäre: „Ich male verzerrte Gesichter. Ich will nichts Romantisches produzieren.“

Alle drei Maler haben auch eine ausgeprägte Neigung zur Skulptur; Giacometti und Violanthe hinterlassen auch plastische Arbeiten, Köpfe, Figurinen, Gliedmaßen, szenische Gebilde, Statuen – eine Zeitlang bleiben auch die Skulpturen Giacomettis bewußt auf das kleine Format beschränkt, wie bei Violanthe immer. Im Unterschied aber zu ihm und Bacon erzählen ihre Bilder vollständige Geschichten: Reflektiert Bacon in seiner Malerei über alle Ausdrucksformen des Schmerzes, der Gewalt, der Verletzbarkeit des Fleisches und des unausweichlichen Todes, ohne das damit einhergehende Grauen religiös oder anders bewußtseinströstend aufzulösen, so scheinen uns die Arbeiten Violanthes eine spirituelle Anschauung als Grundbedingung zur Hoffnung auf Erlösung aller menschlichen Leiden förmlich aufzuzwingen: Trotz aller Erschütterung, die sie oft bewirken, sind sie stets vor einem geistlichen Hintergrund entworfen, der alle Gewalt und Opfer zu versöhnen und jeden Irrenden mit dem seelischen Bewußtsein zurückzuverbinden versucht, auf daß auch sein irdisches Dasein wieder an Vertrauen und Zuversicht gewinne. Gerade das Fehlen jeglicher Deutungshilfen, die beunruhigende Abwesenheit erklärender Elemente, die den beziehungslosen Exzeßstücken Bacons und Giacomettis sinnstiftenden Halt geben könnten, unterscheidet auch den intentionalen Ansatz der Künstler: Giacometti stellt das Ausgesetztsein des Menschen dar, dem auf brennende Fragen und Phänomene seiner Existenz aus der metaphysischen Sphäre keine Antwort zuteilwird. Bacons extreme Entstellung seiner Figuren macht jede distanziert-erzählerische Einordnung so gut wie unmöglich: sie konfrontiert den Betrachter unmittelbar mit der Szenerie, zieht ihn geradezu in sie hinein, saugt ihn selbst auf. Zu dieser vollständigen Auflösung der eigenen Kontur, dem Verschwinden aller menschlichen Halte- und Orientierungspunkte, dieser sinnlich-physischen Fassungslosigkeit und geistigen Verlassenheit, verhalten sich die Arbeiten Violanthes antithetisch: Sie bilden die Welt in ihrer Unerklärlichkeit nicht mehr nur ab, sondern setzen ihrer physischen und psychischen Abgründigkeit neue – lichtere, ein-leuchtende, erleuchtete – Welten und Dimensionen entgegen. Diese bildnerische Transformation der gesamten Historie unserer Situation zu einem einzigen Akt intuitiven Erkennens gewährt uns ein umfassendes emotionales Verständnis über den höheren Sinnzusammenhang unserer Existenz, welches uns die radikal zweifelnden Bildwerke Giacomettis und Bacons vorenthalten – und ob ihrer beabsichtigten intellektuellen Provokation sogar vorenthalten müssen.

Indem die Künstlerin Rappl dem Auge Bilder seiner eigenen Sprache bietet, die über symbolische Zeichen- und Elementekräfte auf das Unterbewußte einwirken, füllt sie dort alle Mangelzustände mit lebenserlösenden Zukunftsvisionen auf, erneuert die Daseinsgründe, stiftet hoffnungsträchtigen Lebenssinn. Die Metaphernbildnisse Violanthes gleichen Seiten aus dem unendlichen Kompendium einer geistig-sinnlichen Welt: Wie zur Navigation durch die Mysterien unseres Seins transzendieren sie intuitive Wahrheiten. Ähnlich wie der französisch-US-amerikanische Maler Marcel Duchamp (1887-1968) Anfang des 20. Jahrhunderts das ‚Ende der Netzhautkunst‘ verkündete – die Auflösung einer Malerei, die nur einen bestimmten Moment der Betrachtung wiedergibt – und der allgemeinen bildnerischen Darstellung räumliche temporäre und ideelle Dimensionen eröffnete, genauso vermitteln die bedeutendsten Arbeiten Violanthes eine ganzheitliche Konstellation unserer Beziehungen: Die gegenwärtigen äußeren Erscheinungen gehen auf innere unerlöste, frühere Entscheidungen zurück und tragen in sich bereits schon wieder die Keime neuerlicher Wandlung. Alles geht in jener in sich geschlossenen Gesamtheit auf, die von keinem Element des Lebens je verlassen werden kann – von der es nicht verlassen werden kann...

Wer die Wahrheit mißachtet, wer sie nicht kennt oder versteht, der wird sie kennen-, muß sie verstehen und achten lernen. – Anstelle einer Momentaufnahme, in der die klassische Malerei bisher ihre Gegenstände abbildete, tritt jetzt die religiös-historische Aussage der Darstellung. Ohne spirituelle Anbindung und Ausstrahlung der Figuren oder Elemente, ohne geistigen oder geistlichen Hintergrund, vor dem sie stehen oder auf den sie innerlich verweisen, kann eine gestalterische Darbietung als Kunstwerk schlechthin keine vollwertige Bedeutung mehr erlangen. Mit Duchamp beginnt ein neuer Abschnitt in der bildenden Kunst, in der sich eine reine äußere Form zugunsten tiefendimensionaler Aussagen auflöst und dem Betrachter metaphysisch-emotionale Rezeptionen ermöglicht. – Alexander Alexandrowitsch Blok (1881-1921), Dichter der russischen Moderne, Vertreter der sog. zweiten Generation der Symbolisten: „Die Malerei lehrt schauen und sehen (das sind verschiedene Dinge, die selten zusammenfallen). Dadurch erhält die Malerei jenes Gefühl lebendig und intakt, das die Kinder auszeichnet.“ – Und Eugène Delacroix (Ferdinand Viktor Eugène Delacroix, 1798-1863), einer der bedeutendsten französischen Maler, der auch als Wegbereiter des Impressionismus gilt: „Das Gemälde ist nichts als eine Brücke, welche den Geist des Malers mit dem des Betrachters verbindet.“ Und Claus Oldenburg: „Kunst ist ein Kommunikationsmittel. Das Bild ist die vollständigste Technik jeder Kommunikation.“ – Ist das Bild nicht nur Wiedergabe einer Oberflächenstruktur, nicht nur zufällige Zustandsbeschreibung oder Selbstinszenierung, nutzt es seine kommunikativen Möglichkeiten voll aus und spricht und schließt über seine Symbolsprache die intuitive Wahrnehmung des Menschen auf, dann berührt das Bildwerk die Urgrundebene unserer Seele, den Bewußtseinsraum der Wahren Wirklichkeit, die Quelle alles Seins. Die Deckung und Wiedererkennung der inneren Verhältnisse der Darstellung bewirkt in den intuitiven Bereichen der Psyche – so wie es ein Wort, ein Gedanke oder eine Erfahrung im physischen Selbst vermag – eine Erweiterung des integralen geistigen Verständnisses über den Menschen, seine Existenz, seinen Daseinsgrund. Je weiter sich der Mensch in derartige Besinnungen vertieft, sich in Abgeschiedenheit vom weltlichen Getriebe in den großen Mikrokosmos seiner Seele und ihrer wahren Realität versenkt, desto deutlicher gewahrt er dort die unendliche Weisheit des Schöpfers, schaut Seine Genialität, die betörende Schönheit und ewige Liebe, in die alles eingebettet ist, von der alles durchstrahlt wird, die von allen Dingen ausstrahlt – und durch welche jedes Ding und jede Erscheinung auf Sie und Ihn verweist. Es ist die größte Herausforderung für uns: im Zustand des ‚Nicht-Wissens‘ zu verweilen, um von dort aus zur Quelle in uns zu gelangen, innerlich, um dort die vermeintliche ‚Antwort‘ zu suchen – und zu finden: die Einheit mit allem, die Angst-Freiheit. Wenn wir diesen Weg zu uns selbst gehen, dann sind wir auch dem anderen und allem anderen verbunden. Frieden tritt ein, der Friede mit mir selbst, mit dem anderen und der Situation. Das Vögelchenbild von Violanthe – dieser ‚Engel‘ für uns heute – lädt zu diesem innerlichen Sich-Hineinversenken in Ruhe und Frieden ein: Wie kuscheln sich diese zarten Geschöpfe hinein in ihr sicheres, immer sicheres Selbst, diese kleinen schönen Wesen, im Vertrauen, daß der Baum, die Quelle, sie immer tragen wird und immer da Ist – sie Selbst – fest verwurzelt in Ewigkeit – Ist! – In hundert Jahren, wenn Entartung und Verwahrlosung der im Menschen angelegten höheren Prinzipien nicht mehr zu überlächeln sein werden, wenn sie uns endlich als Existenzbedrohung offenkundig und bewußt geworden, spätestens dann werden wir die Klage- und Heilsbotschaften neu betrachten und neu begreifen, mit denen Violanthe uns wachrütteln, anrühren und aufrühren wollte…


 

Gestalterische Entwicklung

Im künstlerischen Werden Violanthes lassen sich drei stilistische Abschnitte abgrenzen – die sich parallel entwickeln und auf deren Verfahren sie, je nach Thema und Intention, immer wieder frei zurückgreift: 1., die rein expressive Farb- und Gefügekomposition – auf der Internetseite www.archiv-swv.de hauptsächlich anzutreffen im Ordner Akte-Strikes, wobei aus teilweise verstörend radikaler Verschmelzung von Farbverläufen, Pinselreflexen und Kontrastelementen szenische Figurationen entstehen; 2., die schärfer konturierten und in vervielfältigten Beziehungen aufgefächerten Darstellungen von Gesichtern und Landschaften; und eine dritte Art, in der die beiden vorgenannten Methoden aufgehen und sich zu einer eigenen Form verdichten: dem mehrdimensionalen Metaphernbildnis, wobei die emotional-intellektuelle Aussage Vorrang gewinnt vor der des authentisch-gestalterischen Augenblicks. Farben, Linienführung und Aufbau werden hier strenger komponiert. – Im folgenden eine Analyse dieser drei Gestaltungsmethoden: 

Die im Archiv-Ordner ‚Akte-Strikes‘ versammelten Bildnisse stammen mit großer Wahrscheinlichkeit alle direkt aus dem Unterricht an der Salzburger Sommerakademie: In diesen scheinbar ‚in einer einzigen Entladung‘ aufs Papier ‚geworfenen‘ Szenenskizzen bestätigen sich alle Beschreibungen, die wir über den didaktischen Ansatz Prof. Szyszkowitz’ kennen. So wissen wir, daß in seiner Klasse für figurative Malerei auf den Bleistift verzichtet wurde – was zu voller Konzentration, Beherrschung von Material und Werkzeug und zur Schulung einer geradlinigen Ausdruckstechnik zwang. Es wurden lediglich Wasserfarben verwendet, wodurch Berichtigungen unmöglich sind: „Jedem mißglückten Versuch folgt unmittelbar ein neuer“, wie Hans Lechner berichtete, „so daß es bei solcher gedrängten Reihenfolge der Herstellung in diesen fünf Wochen nicht wenige Schüler gab [wie schon bei Oskar Kokoschka], die es auf mehrere Hundert Blätter brachten.“ Im Vordergrund der Übungen steht die Erfassung und Darstellung der tektonischen und dynamischen Realität des menschlichen Körpers als ein Raumerlebnis auf einer ebenen Zeichenfläche – mithin also die Ausbildung der Fähigkeit zur Übertragung bzw. Sichtbarmachung des Gefühls im Erleben der Gegenwart, durch die der Künstler den emotionalen Ausdruck, den ein Körper oder Objekt in diesem Augenblick in ihm erzeugt, in einen lebensechten Abdruck des Pinsels hineinzulegen lernt…

Nichts im ganzen Universum trägt höhere Energie und machtvollere Keimfähigkeit in sich als die leitenden Bilder und gedanklichen Motive des Menschen. Nichts jedoch läßt ihn diese Potenzkräfte feinsinniger auch empfangen, übersetzen und bekunden – als sein Gefühl. Der mächtigste Initiator aller geistigen und materiellen Schöpfungen ist das Gefühl, nicht die bloß übernommene oder überkommene bildliche oder intellektuelle ‚Vorstellung‘ irgendwelcher Wahrscheinlichkeiten oder Wünsche.

Erst in der Empfindung transzendenter Emotionsformen erschließen sich dem Menschen gültige Bilder authentischen Wissens und Verstehens. Ihnen immanent ist die sinnstiftende Beziehung zum Gegenstand und intentionalen Grund seines Fühlens: Kann er spüren, so spürt er die volle Absicht hinter allen Ereignissen und erkennt ihre absolute Bedeutung – und vermag sie nun auch rational zu begreifen, zu entschlüsseln, zu vertonen, zu bebildern. Der in Gefühl gekleidete Gedanke ist das sich gestaltende Wort Gottes. Und deswegen auch verderben aufgestaute Gefühle und ungesagte Worte den Raum unseres irdischen und geistlichen Seins: Sie werden und sie machen giftig, wie es der österreichisch-US-amerikanische Psychiater und Soziologe Wilhelm Reich (1897-1957) formulierte und der deutsch-US-amerikanische Sozialpsychologe und Philosoph Erich Fromm (1900-1980) später ausdeutete: „Die Zerstörung ist die Kreativität der Hoffnungslosen und Verkrüppelten, sie ist die Rache, die das ungelebte Leben an sich selber nimmt.“

Am offensten für die Wirklichkeit sind daher die Augen der Leidenden: Allein das persönliche Betroffensein macht wach und empfindungsfähig für die Wahrheit – und reif zu fühlen, wo das rechte Wort oder vielmehr die notwendige Tat erforderlich ist. Im Zentrum aller Kunst steht somit das intentionale Gefühl, das zu einem Bilde oder Ausdruck drängt bzw. das Gefühl, das sie erwecken möchte…

Von der frappierenden Harmonie zwischen Naivität und Entschiedenheit, aus der die etwa 100 Akte und Studienblätter entstehen, geht eine eigentümlich-anrührende Faszination aus: Anstatt äußerer Abbilder scheinen hier auratische Hüllen des Inneren Wesens der Personen und ihrer momentanen Befindlichkeiten wiedergegeben. Beeindruckend dabei, wie mit ganz wenigen Strichen, oft in eintönigen Farben, eine ungeheure Präsenz der lebendigen Figur und ihrer Verfassung erzielt wird! Wir könnten dieses Verfahren im weitesten Sinne mit dem Ideal der Kalligraphie vergleichen – mit einem einzigen Pinselschwung einen möglichst vollkommenen Kreis abzubilden bzw. die innere Harmonie der Objekte und zugehörigen Anschauungen in die schlichteste und dabei doch treffendste Ausdrucksform zu übertragen.

Wählen wir als beliebiges Beispiel den Akt mit der Bezeichnung IMG_2086, hier zur Anschauung eingefügt: Obwohl fast ‚nichts gemalt‘ und kein Körperglied ‚ordentlich ausgeführt‘ ist – ich blicke beinahe auf eine Photographie dieser Situation: Ich gewahre ‚jede Einzelheit‘ dieses lebendigen Körpers ‚genau‘, die Szenerie belebt sich mir völlig wieder. Betrachtet man allein ‚Kopf und Haare‘: aus vermeintlich willkürlichen Farbreflexen tritt ein bestimmbares ‚individuelles Gesicht‘ hervor. 

Ein anderes Beispiel, IMG_2602, ebenfalls aus dem Ordner ‚Akte-Strikes‘, ein Mädchen mit Zöpfen und angewinkeltem Bein und Arm: Wo verbindet sich scheinbare Flüchtigkeit mit einer bis in die letzten Haarspitzen des Pinsels reichenden bewußten Präzision mehr? Wo sah man bisher diffusere ‚Farbkleckse‘ zu einer körperlich-lebendigen Vision sich so vereinigen? Wie zufällig verlaufene Farbspiele, und doch fügen sie sich wie unentbehrliche Mosaiksteinchen zu einer belebten plastischen Erscheinung. Und das Selbstvertrauen, ein sprachloses Blatt Papier mit einer vollständigen ergreifenden figürlichen Darstellung zu versehen – lediglich aus dem Tupfenhauch weniger vager Pinselreflexe! Der Mut, farblich zwei unterschiedliche Beine zu ‚malen‘, wenn es das Gesamtgefüge erfordert, setzt den meisterschaftlichen Gebrauch einer reichen Gestaltungspalette voraus. Das Kleid könnten wir als ein ‚Wischiwaschi‘ unförmiger Stränge und Flächen bezeichnen – und doch entsteht im Gehirn seine vollständige Kontur, so weit, daß man die seidige oder perlige Struktur des Stoffes auszumachen glaubt, die genaue Faltenlage und sogar seine neue Form im nächsten Moment der Bewegung des Kindes. Das alles ist in den merkwürdig verschwommenen Pinselwürfen enthalten. Die Verblüffung ist groß, daß aus scheinbar wahllosen Elementen, aus Methoden, die wir mit Begriffen wie ‚Schmierigkeit, Schusseligkeit, Flüchtigkeit‘ verbinden würden, derart lebensechte figurgenaue Individuen hervortreten. Der Pinselstrich ist bravourös gehandhabt, die Abstraktion so konkret, dem Wechselspiel der Farben und der Kontrastierung derart feinsinnig nachgespürt, daß sich diese Virtuosität zuletzt auch als künstlerisch-stimmige Gesamtheit vermittelt. Die vorgetäuschte Beliebigkeit transformiert sich im Betrachter zu eben jener Empfindung, mit der auch die Künstlerin das Mädchen betrachtet und die den Gestaltungsimpuls hervorgerufen hat – dem sie instinktiv folgt.
                             
Ich erinnere mich nicht, jemals schon Bildnisse von ähnlich ‚ungenau hingeworfener‘ und dennoch so vollendeter Form- und Farbgebung und präziser Konturierung eines lebendigen menschlichen Körpers samt seiner Haltung und Kleidung gesehen zu haben. Und als ob jeder ‚beliebige‘ Pinselstrich von der Hand der Künstlerin gar nicht anders könnte, als Ansichten aus den Regionen ihrer tiefen Intention sichtbar zu machen, so tritt aus den Schatten- oder Kompositionskontrasten am Kopf des Kindes die Silhouette einer zweiten Person hervor, ein Dämon oder Beschützer – ein zentrales Motiv, wie es Violanthe später bewußt in vielen Metaphernbildnissen verwenden wird. – Auf der Rückseite übrigens dieses Blattes steht der Name des Models: Lisa. 

Ich habe für den Ordner dieses Teils der Werke Violanthes die Bezeichnung ‚Akte-Strikes‘ gewählt: Als (engl.) ‚Strike‘ wird das ‚Abräumen mit dem ersten Wurf‘ beim Bowling bezeichnet. Ein solcher Wurf setzt die Beherrschung, das exakte Erfassen und Vereinigen aller Komponenten des Spiels voraus. Ich kann die Kugel während des Laufs nicht mehr beeinflussen; das ist auch nicht nötig, denn im Augenblick des Abwurfs habe ich alle Informationen über den Gegenstand auf sie übertragen. Ich habe den ‚vollen Korb‘ bereits in meiner Hand gefühlt; nichts wäre weiter zu verbessern oder zu perfektionieren, ich kann alles ‚stehen lassen‘, wie es ist, denn ich kann meiner Intuition, meiner Fertigkeit, meiner Sicherheit im Ausdruck vertrauen: Mein ganzes Gefühl liegt in diesem Moment des Abstoßes, in der Farbe, dem Pinsel, zwischen Blatt und Farbe, und verewigt diesen Augenblick in ihrer aller vollkommenen Zusammenkunft mit einem tadellosen – Strike.

Herbert Hinterleithner (1916-1942), ein österreichischer Lyriker, der wie Rudolf Szyszkowitz der katholischen Jugendbewegung Bund Neuland angehörte, schrieb seinem Freund am Vorabend des Weihnachtsfestes 1936:

„Weißt Du, ich habe mich früher oft geärgert, daß ich kein sicheres und schnelleres >Urteil< über Kunstwerke gehabt habe, wie viele andere. Aber jetzt geht mir so viel auf, und ich fange an, unsere Kunst getrennt von Können zu unterscheiden und das Wahrhafte, Erlebte wie Zufällige, Erschwindelte zu sehen. Ich weiß, daß ich Dir da am meisten verdanke.“

Denn KUNST ist es nur, wenn aus ihr das zarte Gespinst der numinosen Beziehungen unserer Existenz sichtbar wird, und dieses verborgene Wirkliche lebt und ist greifbar vielmehr in seinen wie flüchtig oder zufällig erscheinenden Momenten als in allen statuarisch-geläufigen oder erzwungenen Formen, die es überdies in der physischen wie psychischen Realität nicht gibt – wie uns Quanten- und Neurophysik lehren. Zur Darstellung des Wahrhaftigen braucht es mehr, als nur ein ‚Können‘, ‚Wahrheit abzubilden‘: „Kunst reproduziert nicht das Sichtbare; es ist eher so, daß sie es sichtbar macht. Der Mond entwickelt Kreativität, wie Chemikalien Photographien entwickeln.“ (Norma Jean Harris.) – „Gott denkt in Gegenständen, ich male in Gegenständen“, betonte Professor Szyszkowitz immer wieder, doch niemals sah und entließ er seine ‚Gegenstände‘ ohne Bezug zur übergeordneten Realität, aus der sie hervortreten. Alles Sichtbar-Gegenständliche ist ja vielmehr ‚Idee Gottes‘, als nur ein äußeres Ding, das es möglichst ‚genau‘ zu reproduzieren gölte. – „Ich male nicht mit dem Auge, sondern mit dem Glauben. Der Glaube gibt Dir das Auge.“ (Amos Ferguson.) –

Der GLAUBE sieht eine Wirklichkeit, die dem Rationalisten wie etwas ‚Erdichtetes, Erfundenes, Erschwindeltes‘ vorkommen mag; alle drei jedoch – Glaube, Realismus und Wahrhaftigkeit – sind Voraussetzungen zu einer Meisterschaft, die das Wahre Leben der Gestalten hinter ihren Oberflächen hervorzuholen fähig ist. Nur die allegorische Überhöhung der Wahrheit entspricht am ehesten auch dem höheren Prinzip der Wahrhaftigkeit. – Der deutsche Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno (1903-1969): „Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.“ – 

Und da ich diesem Text sowieso einige der schönsten Zitate mitgeben möchte, die von der Malerei inspiriert sind, füge ich sogleich drei weitere Sinnsprüche an, die meine Untersuchungen bereichern sollen:

M. C. Richards (auch ein Autor, von dem ich keine genaueren Angaben machen kann) sagte: „Poesie tritt oft durch das Fenster der Unwesentlichkeit ein.“

Vom chinesischen Maler Ku Ning-yüan, der um 1570 gelebt hat, ist folgende Sentenz überliefert: „Nach der Meisterschaft (shu) sollte Frische (sheng) das Ziel in der Malerei sein. Aber es ist schwer frisch (spontan) zu sein, wenn man Meisterschaft errungen hat. Es besteht jedoch ein Unterschied zwischen der bequemen Vertrautheit und gezügelter Meisterschaft. Diese kann sich die Ursprünglichkeit bewahren. Unbeholfenheit (in der Strichführung) ist besser als Geschicklichkeit, aber es ist schwer, unbeholfen (naiv) zu sein, wenn man es zu Gewandtheit gebracht hat. Doch, wenn ein Bild ohne Anstrengung originell ist, kann es unbeholfen und dennoch vollendet sein.“

Der deutsche Schauspieler, Schauspiellehrer, Film- und Opernregisseur Werner Schroeter (1945-2010): „Jedes Kunstwerk ist eine Befreiung von den Fesseln des Nachgemachten.“

Zwischen diesem ersten methodischen Verfahren im gestalterischen Schaffen Violanthes und der Ausdrucksweise am Ausgang ihrer schöpferischen Produktion, in der vor allem die Bilder für den Jungfrauen-Zyklus entstehen, muß der Großteil ihrer Werke, mit über 250 Bildnissen, einem Bereich zugeordnet werden, der diesen Übergang repräsentiert – vom unmittelbar expressiven Gestaltungswurf zur ausgereiften epischen Bildmetapher. 

So zahlenmäßig diese Gruppe die Stärkste ist, so vielfältig sind auch hier die aufgegriffenen Motive und technischen Variationen. Ich zähle zu ihr alle Impressionen, Porträts, Monochromen und Linolschnitte. Zugleich muß uns, wie gesagt, gegenwärtig bleiben, daß diese Systematisierung lediglich dazu dient, das methodisch-handwerkliche und inhaltliche Spektrum in Violanthes Werk zu ordnen; sie spiegelt nicht etwa den chronologischen Entwicklungsgang der Künstlerin wider: Bereits in sehr frühen Arbeiten, die schon zur Zeit der Salzburger Studienaufenthalte entstehen, spielt Violanthe mit mehreren erzählerischen Ebenen, genauso, wie die bedeutendsten ihrer späteren Werke noch ihr expressives Grundwesen offenbaren, das jeden künstlerischen Ausdruck voraussetzt. Alle drei ‚Stadien‘ vollziehen sich also – wie üblich und natürlich – in Einheit der Gesamtpersönlichkeit der Künstlerin und arbeiten sich synchron gegenseitig zu. 

Bedauerlicherweise hat Violanthe ihre Arbeiten nur selten signiert und noch seltener datiert. Aus den wenigen, die mit einem Datum versehen sind und am Vergleich dieser mit anderen thematisch oder technisch ähnlich angelegten Bildnissen geht uns jedoch auf, wie vollständig und wie früh bereits die sinnbildlichen Elemente in ihrem inneren Ausdrucksfundus angelegt und ihr verfügbar waren, die später den besonderen Charakter ihrer Werke auszeichnen. Die Studienarbeiten, die sich hauptsächlich im Ordner ‚Akte-Strikes‘ versammelt finden, entstanden Mitte der 60er Jahre. Doch viel früher schon, davon zeugen ihre Ausstellungen Ende der 50er, entstehen Bildnisse mit mehrdimensionalen Bedeutungsebenen. Hierzu zählen die frühen Vaterbildnisse und die vier besonderen Gemälde, die nicht mehr in unserem Besitz sind, von denen wir glücklicherweise aber Diaphotographien im Nachlaß Violanthes fanden (vgl. dazu die Bilder mit den Bezeichnungen D1020001 bis D1020004 im Ordner Metaphern; zwei davon hier rechts). 

Und auch dort, wo es nur um proportionale Studien geht, wie häufig bei den ‚Akten-Strikes‘, setzt sich immer wieder der Drang durch, das gegenständliche Objekt in seiner transzendenten Wirklichkeit zu zeigen: Unweigerlich assoziieren wir mit den ‚Streifen und Schmieren‘, den zerfließenden Farben und Formen, den in ihrer Präzision gestörten Gliedern und Flächen, die physischen und psychischen Schlieren, Brüche und Wunden menschlichen Daseins. Dagegen würde eine ‚abgeschliffene Äußerlichkeit‘ den Zugang zur mysteriös-jenseitigen Realität unseres Seins praktisch verhindern. In dieser Phase entwickelt die Künstlerin ihre Souveränität und Sicherheit, in einen anscheinend belanglosen Strich tiefe Bedeutung hineinzulegen – und erreicht damit bald jenen nahezu vollkommenen Zustand, den jeder meisterlich orientierte Künstler anstrebt: Aus festem Vertrauen auf den perfekten Ausdruck seiner künstlerischen Wahrhaftigkeit jedes Zeichen, jedes Wort, die sich ihm anbieten, rein so stehenlassen zu können, wie sie aus seiner Intuition gestalterisch hervorbrechen…

Dieses uneitle und der Sache sich ergebende ‚Stehenlassenkönnen‘ ist meines Erachtens eines jener Kriterien, die den gereiften, den in die ganze Freiheit des Ausdrucks sich vervollkommnenden Künstler auszeichnen: Aus der lebenslangen Auseinandersetzung mit sich selbst, dem geistigen und physischen Material, erwächst ihm das unerschütterliche Wissen um die notwendige und präzise Ausübung seines Handwerks, eingewoben und verschränkt in diesen gegenwärtigen magischen Moment des Seins, mit dem er absolut verbunden ist und den er vor dem augenblicklichen Zerfließen in die Vorwelt künstlerisch zu bewahren weiß... So entsteht jenes unbeholfen scheinende und doch vollendete Bild, dem der chinesische Maler Ku Ning-yüan gerade die Ehre vollkommener Kunst erwiesen hatte. Auch die Bilder Violanthes betrachten wir immer wieder mit einer feinen Rührung über die kindliche Einfältigkeit in der Darstellung – die in Wahrheit höchster und reinster Ausdruck eben jener Unschuld und Integrität ist, den nur das vertrauensselige und unverfälschte Gemüt aufweisen und herstellen kann.

Was immer sich den Anschein von Stärke, Gewißheit, Bedeutung verleiht, ist im Grunde nichts als eine Maske, die die wahre Schwäche, Angst und Abhängigkeit des Menschen verbergen soll. Wer den Schild solch geheuchelter Macht ablegen kann, dem wird der innere Weg frei zur Selbsterkenntnis seiner wirklichen Macht und Schönheit, die nur über das Eingeständnis der äußeren Verletzbarkeit erlangt wird – durch die sich dem Menschen auch die Wahrheit von seiner tatsächlichen Unverwundbarkeit im inneren Wesen offenbart.

Die Einsicht in unsere Hilflosigkeit oder Ergebenheit angesichts jener rätselhaften Lebensgewalten, die mit unscharf fließenden Kräften unser Dasein bedrängen, stellt uns mit diesem Da-Sein auf eine Stufe – macht uns ihm ebenbürtig, ebenwürdig und ebenmächtig, seiner heiligen Größe ihm entsprechend auch begegnen zu können: So blicke ich ihm gleichberechtigt in die Augen, werde eins mit ihm und gewinne durch dieses Selbstverständnis, im Angesichte und in Offenbarung meiner eigenen Kraft, die Übereinkunft und Überlassenheit zurück mit den magisch-mystischen Kräften seiner angeblich unbeherrschbaren Natur... Gebe ich meinen egozentrischen Widerstand auf, meine Gefall- und Selbstsucht, so binde ich mich wieder kohärent ein in das unvorhersagbare fließende Feld des Lebensstroms, wobei mir gleichsam auch Seine Unendlichen Gestaltungsmöglichkeiten verfügbar werden... Jetzt strahlt mein Sein im Glanz wahrer Kraft und Schönheit, weil es der Kraft und Schönheit des Wahrhaft-Lebendigen gleicht... – Der deutsche Quantenphysiker Hans-Peter Dürr (1929-2014) drückte diese phänomenale Wirklichkeit so aus: „Die Welt ist nicht wißbar... und erst wer in seinem Leben die eigene Verwundbarkeit erfahren hat, wird wirklich lebendig.“ – 

Dieses Zugeständnis und Bekenntnis zu aller Verletzlichkeit, aller Ohnmacht und Zumutung, die das menschliche Dasein ausmachen, die ihm zugehören wie dem Feuer die Einäscherung, der Luft die Vergänglichkeit, der Höhe die Tiefe, führen immer die Hand unserer Künstlerin. Obwohl jede Linie die selbstbewußte Absicht zeigt, mit der sie ausgeführt wurde, so läßt ihre offene Kontur den Betrachter immer doch auch ein in den zerfallenden Zustand hinter diese Momentaufnahme, verläßlich eingebettet in die Unendlichkeit unergründlicher Liebe. Scheint ein Element unfertig, so ist es doch nur der adäquate Ausdruck jener lebendig-augenblicklichen Empfindung, die sich in der nächsten Sekunde vollkommen auflösen wird in unerklärliche Einmütigkeit zwischen irdischem Verlöschen und erhabener Unauslöschlichkeit. Zu diesem Verständnis gehört das Spiel Violanthes mit der Methode des Impressionismus, die Dinge bis zur Undeutlichkeit oder reinen Stimmung verschwimmen zu lassen…

Neben den frühen fast autistisch wirkenden Entladungen, die aus innerster Befindlichkeit förmlich auf das Papier geworfen scheinen, erarbeitet sich die Künstlerin jene sowohl impressionistische als auch symbolistische Form, die ihren Darstellungen mehr und mehr sinnbildliche Bedeutung verleihen. Dazu überlagert sie die hier klarer konturierten Gegenstände mit den transzendenten Bedeutungshinweisen der Objekte oder Begriffe, die sie übertragen will. Der völlige Verzicht auf dekorative Anhängsel spiegelt die Konsequenz und Bedingungslosigkeit wider, mit der sie dabei ihre künstlerischen Ideale behauptet. Während der russische Maler und Kunsttheoretiker Wassily Kandinsky (1866-1944) in seinen Werken anhand ungegenständlicher Abstraktionen mystische Zustände herzustellen und so den Eintritt des Menschen in eine geistige Epoche zu befördern versucht hatte, spricht die Verknüpfung von gegenständlich-wiedererkennbaren Lebensbereichen mit den metaphorisch-abstrakten Synonymen aus den spirituellen Visionen Violanthes direkt unser Bewußtsein oder Unterbewußtsein an. Die Bilder Kandinskys lassen sich dagegen nicht unmittelbar entschlüsseln. Es ist die persönliche Ansprache und suggestive Kraft in den Werken Violanthes, die das geistige Universum der Künstlerin mit unserem eigenen zu Momenten innerer Übereinstimmung verbinden. Metaphysische Wirklichkeiten tun sich auf: Aus Körpern sprießen Blumensinfonien, Engelsflügel und Strahlenkronen breiten sich über das Geschehen oder erleuchten es, auf brüchigen Böden glauben wir selbst einzubrechen oder von stürzenden Balken förmlich erschlagen zu werden; die Verlorenheit der Figuren macht uns zittern und die Schönheit und Verletzlichkeit der Körper, ihre Daseinszustände und die traurigen oder lichte Gedanken ausstrahlenden Augen, in die wir blicken, ergreifen uns tief...

Alle großen Symbole, die Violanthe später zahlreich variieren und vervollkommnen wird, tauchen auf, sobald sie sie darstellerisch beherrscht: drückende, sich ineinanderschiebende Giebel und Dächer, Doppelköpfe als Sinnbilder für Dämonen, Engel oder Gewissensstimmen, blumenüberwachsene Städte, Totenschädel und Monster, gefräßige Menschen, Kindermörder, aber auch die Sonne, die alles nährende und segnende, wie auch ihr Spiegelgefährte, der Fruchtbarkeit und magische Kräfte spendende Mond, bis hin zu kubistischen Formen, in die sich Menschen, Häuser, Bewegungen auflösen…

Dieser bestimmende epische Impuls, ihre Bildwerke wie zu Erzählungen des Unterbewußten zu verdichten, führt die Künstlerin schließlich zur höchsten Ausdrucksform, in der ihre bedeutendsten Werke gestaltet sind: dem Metaphernbildnis. Etwa 100 Werke umfaßt diese Gruppe, darin einbezogen der Jungfrauenzyklus. Auffällig viele dieser symbolträchtigen Gleichnisse entstehen in den 70er Jahren. Spätestens 1978 ist diese Entwicklungsstufe konzeptionell abgeschlossen – Violanthe ist 51, das Kinderporträt auf dem Ausstellungsplakat von 1979 für Dinslaken zeugt davon: Vor vergitterten Lichtschächten steht ein Mädchen und hält sich schützend die Hände über den Kopf – sich vor den beschuldigenden Blicken, den angreifenden Händen und unaufhörlich wiederkehrenden Pflichten zu schützen... In den folgenden zwanzig Jahren gewinnen ihre Arbeiten immer mehr an Kontur; Details werden verfeinert, sofern dies zur präzisen Vermittlung der Botschaft nötig erscheint. Um die Jahrtausendwende vollendet Violanthe den Bilderzyklus von den klugen und törichten Jungfrauen und stellt damit auch ihre künstlerische Produktion ein.

Verstünden wir doch nur: Alles Physische ist Symbol, gegenständlicher Ausdruck für die transzendentale Wirklichkeit, die unser materielles Dasein erzeugt. Und jede wahre Kunst daher niemals nur Gegenstand bloßen Wohlgefallens, sondern immer unersetzliches Bedürfnis, diese höhere Wirklichkeit zu offenbaren – den höheren Menschen verwirklichen zu helfen. Jede äußere Form, jedes leibliche Gebilde, jedes Objekt, Subjekt und jedes Sujet, sie alle repräsentieren Aspekte der geistigen Welt – Schöpferkräfte des Universums: Ideen, Empfindungen, Inspirationen, die sich zu physisch-sinnlicher Existenz in äußeren Formen und psychischen Befindlichkeiten organisieren oder als solche erscheinen. Wir könnten anders auch sagen: Unsere gesamte leibliche Welt besteht aus nichts anderem als den wundervollen und wundersamen ‚Gedanken Gottes‘, die sich in jedem äußeren Ding verkörpern. Daher auch die magische Wirkung äußerer Gestaltung, äußerer Gestalten und Bilder auf uns: Unbewußt lesen wir in ihnen wie in Büchern über die höhere Wirklichkeit, die uns hier auf Erden eben nur in sinnlich-physischer Vermittlung über Gegenstände zugänglich ist. Die Seele lebt, denkt und empfindet in Bildnissen, weil keine Beschreibung einen Zustand erschöpfender und vollkommener vermitteln kann als das Bild. – Sinn-Bilder: zu sichtbaren Strukturen und Beziehungen geronnene, verbildlichte seelisch-geistig-immaterielle Verhältnisse. – Vor den großen Werken der Kunst, am eindrucksvollsten jedoch vor den Werken bildnerischer Meisterschaft, stehen wir ‚stumm oder sprachlos‘ weil sie, wie keine anderen sinnlichen Objekte, so unmittelbar und vollständig unser Inneres wiedergeben und umfänglicher offenbaren als es verbale Erklärungen und Deutungen je vermochten... Gerade die Literatur hat Meisterschaft nur dort errungen, wo die wundersame Bildwelt, die sie innerlich hervorzurufen verstand, über die trivialen Formen, die unseren geistigen und emotionalen Alltag bestimmen, hinausweist.

Ich blicke in die ganze Tiefe und Weite der göttlichen Hintergründe einer Szene: Intuitiv erfasse ich an jeder vergänglichen Gestalt ihr unvergängliches Wesen, im physisch Gebildeten sein metaphysisch Bildendes. Und zugleich wirkt die Äußerlichkeit dieses Gebildeten – als das Bildende – auf die inneren Zustände, Beweggründe und Auffassungen zurück. Und kein Künstler, der aus inneren Bildnissen intuitiv nicht auch die kraftvollsten Motive, reinsten Symbole und spannungsreichsten Kontraste freizulegen und in äußere Wiedergabe zu übertragen wüßte, die den Aufnehmenden nun ebenso beeindrucken, so, wie sie dem Künstler begegnet sind und ihn innerlich ergriffen haben. Die Sprache des Überbewußten besteht aus Schwingungsmustern, aus magischen Form-Inhalt-Beziehungen, aus energetischer Potenz und geistiger Latenz, die sich physisch zu den uns sichtbaren Konstellationen – formieren: Die ‚In-form-ation‘, als Urformen-Kraft hinter allen Dingen, strömt in Resonanzprozessen zu der uns bekannten physischen Realität aus. Symbole, Materialien, Körper, Zustände, Organe – sie sind ver-körperte, ‚in Form angehäufte‘ Essenzen einer überempirisch-begrifflichen Welt. Sogar die seelischen Zustände eines Lebewesens offenbaren seine Interkommunikationsfähigkeit mit den geistigen Aspekten, die es konstituiert haben: Es ist in Resonanz auf seine Be-Stimmung ‚ein-gestimmt‘…

Der sensitive Mensch, der die Mitteilungen aus dem Informationsfeld, das ihn ständig durchdringt, zu übersetzen weiß, sieht hinter den äußeren Gleichnissen in die transzendente Wirklichkeit ein, die alle Ausdruckskräfte und Zustände erzeugt. Aber auch den weniger bewußten Menschen beeinflussen die latenten Schwingungen zu seiner Bestimmung intuitiv. Auch sein Sensorium – mag es noch so sehr von äußerlichen Attraktionen oder Besorgnissen überlagert sein – steht in ständiger Resonanz mit den verborgenen Schichten und Dimensionen des Geistigen. Der bewußte oder unbewußte Anklang, den die Aufnahme sinnträchtiger Bildnisse in uns hervorruft, so zart er auch sei – immer öffnet er des Beschauers Innenraum und trägt ihm Seeleninhalte zu, die ihn mit Wesenskräften aufladen, ihm zu Heil und Heilung. – „Das wahre Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare“, sagte der geniale irische Schriftsteller Oscar Wilde (1854-1900), und meint damit nichts anderes als der mit diesem Wort schon zitierte Lehrer Violanthes, Professor Szyszkowitz: „Gott denkt in Gegenständen, ich male in Gegenständen.“ – Die äußere Welt ist ein direkter Verweis auf das Wesen der Welt hinter ihren sichtbaren Formen. Diese sind Ausdruck des Unsichtbaren, dessen unsagbare Schönheit, Grandiosität und Macht wir unmittelbarer nicht erleben können – als in physischer Verfassung!

Aus diesen religiösen Überzeugungen floß auch das Werk Rudolf Szyszkowitz’: die KUNST als jene zauberische Botin zu ehren, die sich vollkommen der erhabenen Aufgabe hingibt, Verständigung und Versöhnung herbeizuführen zwischen der übergeordneten Wahren Wirklichkeit und unseren sinnlich-körperlichen Bedürfnissen und Bedingungen. – Oder mit den Worten Goethes (1749-1832): „Die Kunst ist eine Vermittlerin des Unaussprechlichen.“ –

In den Metaphernbildnissen Violanthe Rappls verwirklicht sich dieser Grundanspruch an die Kunst: vermittels geistig-bildnerischen Ausdrucks den Empfangenden in Beziehung mit dem Mysterium und der Heiligkeit seiner Existenz zu bringen, ihm bewußt oder unbewußt Zugang zu verschaffen zu den transzendentalen Ebenen des Seins und aller Kräfte – um seinem Werden zum Menschen hin die Wege zu weisen, ihn aufzufordern, die Lebenseinweihung anzunehmen, die ihm die eigene Seele unausgesetzt darbietet. Diese Aufforderung zum Zu-sich-selber-kommen, zum Zurück-kehren zur innerster Wesenswahrheit, diese Verlockung zum Ganz- und Heilwerden geht von allen Darstellungen aus, deren Symbolelemente aus dem reichen Fundus metaphysischer Offenbarungen abstammen.

Der Künstler ist ihr Akzeptor und Transformator, er empfängt und formt ihre heiligen Botschaften zu ‚ansprechenden‘ Bild- und Geisteswerken. Ihn treibt die Liebe, die er zur Liebe dieser höheren Sehnsucht des Lebens empfindet: ein Bewußtsein zu schaffen über die individuelle Verantwortung des Menschen für das Allgemeine und damit ganz unmittelbar für den Bruder oder die Schwester neben ihm. Die Entwicklung dieser Fähigkeit, im anderen denken und fühlen zu können, eine fremde Konstitution und Intention nachzuempfinden, die Logizität und Schönheit der Mannigfaltigkeit, der Fülle der Lebens-, Auffassungs- und Gestaltungsformen zu erfassen, sie in sich selbst aufzufinden, sie zu imaginieren und zu projizieren – diese große Aufgabe steht einer Menschheit bevor, die sich nicht nur theoretisch, sondern auch physisch und psychisch entschlossen haben wird, ihren Untergang als humane Spezies zu verhindern. Erst in diesem Akt wahrer Nächstenliebe verwirklicht sich die Idee eines den Menschen erlösenden Gottes im Menschen selbst: Er selbst IST dieser GOTT, der SEINE EIGENE IDEE von der allgegenwärtigen und allgemeinen Erlösung aller Geschöpfe physisch realisiert. Für ein solches Leben jedoch, das jede institutionelle Grenzsetzung oder Verweigerung von Anteilnahme, Verantwortung und Einstehen für den anderen überwunden haben wird, bedarf es insbesondere der ökonomischen Freiheit der Individuen – um den ethischen Quantensprung einer massenverfügbaren moralisch-geistigen Unabhängigkeit auszulösen. Dann erst, wenn die individuelle Verfassung und Orientierung zum ‚allgemeinen Gesetz‘ erhoben ist und von keiner ideellen oder politischen oder sozialen Nötigung reglementiert wird, dann erst ist tatsächlich auch ‚die Würde des Menschen unantastbar‘ – und der Mensch ein wirklich selbstbestimmtes Wesen, wie Gott ihn gedacht hat und wie er es sein muß, um auch den Gott in sich selbst zu offenbaren! Erst wenn ich jede eigene und administrative Macht am anderen aufgebe, wenn ich mich jedem Impuls verweigere, über ihn und das Andere zu verfügen, erst in Unterbrechung solcher bislang üblichen reflexhaft-selbstsüchtigen Absichten öffne ich auch dem Ethischen wahrhaft Raum. Die erkennbare künftige höchste Vision des Menschlichen ist es, eine unbegrenzte ethische Verantwortung seinem nächsten Geschöpf gegenüber lebendig zu halten: Ich blicke in ein anderes Gesicht und sehe in Gottes lebendiges Antlitz – und erkenne seine Bedürftigkeit, seine Intention, seine Bestimmung, sein Wesen und seine Not als mein eigenes Schicksal, meinen Auftrag und mein Glück an. – Wir erinnern uns des Gleichnisses aus einem russischen Märchen:

 

Russisches Gleichnis

Ein Rabbi bat Gott einmal darum, den Himmel und die Hölle sehen zu dürfen. Gott erlaubte es ihm und gab ihm den Propheten Elia als Führer mit. Elia führte den Rabbi zuerst in einen großen Raum, in dessen Mitte auf einem Feuer ein Topf mit einem köstlichen Gericht stand. Rundum saßen Leute mit einem langen Löffel und schöpften alle aus dem Topf. Aber die Leute sahen blaß, mager und elend aus. Denn die Stiele ihrer Löffel waren viel zu lang, als daß sie das herrliche Essen in den Mund bringen konnten. Als die Besucher wieder draußen waren, fragte der Rabbi den Propheten, welch ein seltsamer Ort das gewesen sei. Es war die Hölle. Daraufhin führte Elia den Rabbi in einen zweiten Raum, der genau aussah wie der erste. In der Mitte des Raumes brannte ein Feuer, auch dort kochte ein köstliches Essen. Leute saßen ringsum mit langen Löffeln in der Hand. Aber sie waren alle gut genährt, gesund und glücklich. Sie versuchten nicht, sich selbst zu füttern, sondern benutzten die langen Löffel, um sich gegenseitig zu essen zu geben. Dieser Raum war der Himmel!

Als beeindruckendste Eigenschaft Violanthes bleiben mir Momente von erschütternd grenzenloser Liebe in Erinnerung: daß sie selbst noch in ihren letzten Jahren, in denen sie oft von unendlicher Trauer und Verzweiflung über ihre eigene Situation ergriffen war, stets und zuerst an den anderen gedacht, mit ihm gefühlt, sich um ihn gesorgt hat, vollkommen gleichgültig, in welch bedrängter Lage sie sich selber befand! – Einmal, als ich in früheren Tagen unserer Freundschaft von Sorgen erfüllt war, schickte sie mir in einem Päckchen einen Blumentopf, Hyazinthenzwiebeln und etwas Erde! – Und nie hatte ich vorher Hyazinthen so herrlich blühen gesehen und niemals wieder ihren himmlischen Duft so unvergeßlich gekostet!

 

Metaphernschlüssel

„Dann wird das Himmelreich gleichen zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und gingen hinaus, dem Bräutigam entgegen. Aber fünf von ihnen waren töricht, und fünf waren klug. Die törichten nahmen ihre Lampen, aber sie nahmen kein Öl mit. Die klugen aber nahmen Öl mit in ihren Gefäßen, samt ihren Lampen. Als nun der Bräutigam lange ausblieb, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein. Um Mitternacht aber erhob sich lautes Rufen: Siehe, der Bräutigam kommt! Geht hinaus, ihm entgegen! Da standen diese Jungfrauen alle auf und machten ihre Lampen fertig. Die törichten aber sprachen zu den klugen: Gebt uns von eurem Öl, denn unsere Lampen verlöschen. Da antworteten die klugen und sprachen: Nein, sonst würde es für uns und euch nicht genug sein; geht aber zum Kaufmann und kauft für euch selbst. Und als sie hingingen zu kaufen, kam der Bräutigam; und die bereit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeit, und die Tür wurde verschlossen. Später kamen auch die anderen Jungfrauen und sprachen: Herr, Herr, tu uns auf! Er antwortete aber und sprach: Wahrlich, ich sage euch: Ich kenne euch nicht. –  Darum wachet! Denn ihr wißt weder Tag noch Stunde, in der der Menschensohn kommen wird.“ (Neues Testament, Matthäus 25)

Dieses Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen war die populärste christliche Parabel des Mittelalters – Symbol und Mahnung für unsere Ausrichtung auf Gott:
Halte ich das Licht und das Feuer meiner fünf Sinne und damit meinen Glauben und meine Gesinnung ‚lebendig und leuchtend‘ auf das Erscheinen und die Vermählung mit meinem Gott aufrecht, so handle ich ganz im Sinne des Johannes, wie er in Matthäus 3,8 verkündet: „Bringt rechtschaffene Frucht hervor.“ Oder aber gestatte ich den fünf Formen der Lust (entsprechend den fünf Sinnen des Menschen – daher auch fünf kluge und fünf törichte Jungfrauen) über mich zu herrschen, dann vergesse ich Gedanken und Glauben und Flamme und Liebe – worauf das Licht, das mir den Weg weisen wollte, verlischt. Das Öl in meiner Lampe ist die Liebe. Es erleuchtet die Nacht, die Nebel der Sinnlichkeit. Es ist der Geist – mein innerer Scheinwerfer –, mit dem ich mir selbst und andern leuchten kann, um zu erfüllen, was sich Jesus von mir wünscht zu sein: das Licht der Welt. (Matthäus 5, 14) 

28 Werke hat Violanthe dem Zyklus „Die klugen und törichten Jungfrauen“ zugeordnet. 27 davon sind signiert und datiert; sie entstehen alle zwischen 1989 und 1991. – Sie muß in dieser Zeit also durchschnittlich jeden Monat mindestens ein Bild gemalt haben. – Allein „Ich will nicht im Räderwerk des Alltags zermalmt werden“ trägt keine Unterschrift und kein Datum. Ob es aus einer früheren Phase hinzugefügt wurde oder erst nach 1991 entstanden ist und damit vielleicht überhaupt das letzte Bild wäre, das Violanthe geschaffen hat, läßt sich nicht sicher sagen – zumal sie den Bleistift immer wieder als Gestaltungsmittel eingesetzt hat, sowohl in früheren Arbeiten als auch bis in den Jungfrauenzyklus hinein. Wahrscheinlich reift der Gedanke in ihr erst um die Jahrtausendwende, die längst vollendete Bilderreihe zu einem thematischen Gesamtkunstwerk zusammenzufassen: Obwohl der Zyklus seit über sieben Jahren fertiggestellt ist, findet sich selbst noch in dem zweiten Büchlein „Walze kontra Himmelreich“, das sie erst 1998 veröffentlicht, kein Verweis auf das Jungfrauenthema. Sicher ist aber, daß Violanthe mit der Veröffentlichung ihres 3. Büchleins „Die klugen und törichten Jungfrauen“ ihre künstlerische Produktion insgesamt abschließt.

Von den Bildnissen ‚Vertrauen in die Liebe Gottes‘ und ‚Im Räderwerk des Alltags‘ gehen besondere Anziehungen innerhalb des Zyklus’ aus: Beide illustrieren den Hauptzustand unseres Seins par excellence: Die unausgesetzte Balanceübung – entweder über der beständig drohenden Vernichtung oder aber im Vertrauensgefühl verläßlichster Sicherheit, geführt von himmlischen Händen. Im Grunde beherrscht uns einer dieser Zustände fortwährend: die Angst vor unserem Untergang oder die Gewißheit unserer Ewigkeit. Im ‚Vertrauen in die Liebe Gottes‘ – dieser essentiellsten Botschaft des Jungfrauenzyklus’ – hat Violanthe zu dem biblischen Symbol gegriffen vom Getragenwerden über alle Wasser und Abgründe. Ruft dieses Bild die mystischen Kraftquellen in uns an, vom Wissen, Wagen, Wollen, vom Glauben und Zutrauen, so bildete das ‚Räderwerk‘ seine irdische Entsprechung: ‚Fürchterlich die Gefahr, die unter mir droht: vom unbarmherzigen Räderwerk eines mechanisierten und kommerzialisierten Daseins seelisch und körperlich gefangen gehalten oder zermalmt zu werden!‘ Nur im unerschütterlichen >Vertrauen in die Liebe Gottes< vermag ich mich im Gleichgewicht zu halten, um über alle diese teuflischen Gefahren hinwegzuschreiten: Halte ich mich nur ausgerichtet auf den lichten Punkt am Ende meines Weges, binde ich mich an diese höhere unfehlbare Führung und alldurchdringende Macht an, so trete ich sicheren Fußes über jegliche Hindernisse hinweg und erreiche unbeschadet mein Ziel!‘

2001 veröffentlicht Violanthe ihre schriftliche Version von den klugen und törichten Jungfrauen – womit nun alle 28 Bildnisse wie zu einem Epos ihres gesamten Schaffens buchstäblich zusammengebunden sind. – etwas ausführlicher als in ihren eigenen Erklärungen zu den einzelnen Darstellungen, aber doch nur so, als wollte ich damit ein Tor aufstoßen, hinter dem der ganze Reichtum der inneren Bedeutungskräfte aller übrigen Bilder dieses Zyklus’ auf Erschließung wartet, möchte ich mich hier der Tiefendimension des Bildes „Die klugen Jungfrauen“ nähern:

Ein Mädchen steht in einem kniehohen Flußbett. Es bückt sich, um unter der Wasseroberfläche in den Blütenkelch einer Pflanze am Boden des Gewässers zu blicken, worin in einem Kristall ein neues Menschkind wächst. In ihrer linken Hand hält sie knapp über dem Wasser eine Lampe, mit der rechten fächert sie den Pflanzen in der Tiefe Luft zu. Ihre Arme umgreifen beinahe das kostbare Gebilde, das dort, noch verborgen für die Welt außerhalb, keimt. Wie schützende Wälle liegen sie förmlich um das gesamte Bild. Im Hintergrund, im fernen Raum zwischen Mond und See, die Silhouette eines Menschen, umgeben von einer magischen Strahlensäule, die Hände über dem Kopf zu einer segnenden Geste erhoben. Noch ist es Nacht, doch das Mondlicht spiegelt sich im See und erhellt mit seinem milden Licht das Gesicht der jungen Frau, die Umgebung und alle sonst unsichtbaren Ereignisse am Grund des Stromes.
Wer die Jugendbildnisse der Künstlerin kennt, sieht auch in diesem Gesicht, wie in so vielen andern von ihr gemalten, sie selbst – geboren übrigens, wie schon erwähnt, selber im Sternzeichen der Jungfrau.

Groß, so voller Liebe und Wissen sind diese Augen und doch so unendlich verletzbar. Das Gesicht eines Kindes: arglos, zutraulich, Augen voll Klugheit, voller Kraft und Vertrauen!

Die originale Homepage von Rudolf Szyszkowitz ist Ende 2017 abgeschaltet worden (jetzt nur noch hier als Replikat verfügbar). Auf ihr war/ist folgende ergreifende Weisheit über das Kinderbildnis von ihm zu lesen:

„Nur wer die monumentale Gewalt des Zarten aus seiner Gewalt dramatischer Tiefe herauszuholen vermag, begreift die eminente künstlerische Kraft, die zur Schilderung eines Kindes erforderlich ist. Das Expressive der drängenden, vehement herauswollenden, gierigen, besitzsüchtigen, der dichtesten, kleinen Augen des Kinds, das Anfangen mit aller Gewalt, die erschreckende ‚Deutlichkeit‘ der Öhrchen und die formale Klarheit des Inner-Innersten des gesamten Gewächses: Kind ist eine vornehme und gleichzeitig höchste künstlerische Aufgabe. Die Gefahr des Unbewältigbaren tritt hier beängstigend an den Wagenden heran und die Übermacht des Themas (Rilke ‚bewältigt‘ die Rose sprachlich) treibt den Unfähigen in die brutalst verteidigte Kapitulation. Ich habe wiederholt empfunden, daß das Haupt eines Kindes in seiner deutlichen Dichte und strotzend aufkeimenden Form vielmehr Erhabenes aussagt, als der bedrängte Kopf des Erwachsenen. Es ist eben die dichte Anmut des Frühlings voll Gewalt. Dem Starken erscheint der Blick eines Kindes stärker als alle Stärke-Sinnbilder (wie Schwert und Gewehr, Panzer und flammender Superbomber); die Waffe ist trotz, trotz, trotz allem ein mächtiges Sinnbild der Schwäche. Der gewaltige Gegensatz zwischen der Form des Kindes und des ausgereiften Menschen steigert die Befähigung, den Erwachsenen um so treffender schildern zu können.“ (Hier finden sich weitere Informationen über das Leben und Schaffen Rudolf Szyszkowitz’.)

Und welche Empfindung erst vermag der Blick in Augen und Gesicht voll Zärtlichkeit erzeugen! Das Gesicht, die Augen des Menschen, sie verlangen die ungeheuerlichste, ja, die totalitäre Einlassung auf den anderen: Sowohl der Anblickende als auch der Angeblickte – sie beide können der eminenten Nötigung dieses gegenseitigen Vorhanden-Seins, das mich fordert, fragt und aushält, dieser zudringlichen Gegenwart Echt-Lebendigem, unmöglich entweichen: Das Gesicht ist die volle Offenbarung des anderen Selbst in seiner überirdischen Macht und Wirklichkeit, die lebendige Schau der absoluten Gesetzlosigkeit und Opferbereitschaft Gottes, die uns Sein läßt. Im Gesicht erscheint mir die übersinnliche Wahrheit des sinnlichen Wesens.

Nie bin ich der göttlichen Präsenz des anderen näher als in seinem Blick und im Angesichte solcher Unmittelbarkeit. Ich trete vor das Angesicht Gottes – und erstarre vor der Unendlichkeit seiner Dimension und Bedeutung – und vermag sie nicht zu begreifen und ‚anzusehen‘. Zugleich erfahre ich niemals höhere Gnade, als in Erbarmung dieser allmächtigen Präsenz, mir das Gericht zu ersparen, dessen ich womöglich schuldig bin und die mir stattdessen in Geste und Blick die Liebesantwort gewährt – trotz meiner Sündhaftigkeit in Gedanke und Tat. In dieser Liebe des Menschen zu seinem Nächsten widerscheint Gottes Liebe zum Menschen. Und alle Blicke und alle Gesichter und alle Liebesantworten aus allen Augen aller Menschen zusammen ergeben den einen Blick und das eine Gesicht Gottes – ewig unsichtbar, unaussprechbar und unansprechbar für uns, scheinbar und abglänzend aber im Antlitz meines nächsten Nächsten...

Der Körper der klugen Jungfrau ist eine einzige Geste und Augenschein dieser bedingungslosen Liebesantwort: Alles neigt sich dem geheimnisvollen Kristallwesen zu, und zwischen ihren Augenpaaren geschrieben steht die ganze Geschichte der Welt und Menschheit: Kein Ding könnte sein ohne das andere; zwischen allen Stoffen, Wesen und Elementen dieser Welt schwingt unauflöslich tiefe Beziehung. Und so ineinander verwoben und von Licht durchflutet und vom Fließen der Ströme beatmet, daß man Physis und Psyche, Materie und Geist gar nicht auflösen und scheiden könnte. Helle und Dunkelheit, Hartes und Weiches, Bewußtes und Unbewußtes, Gewißheit und Furcht, Kraft und Schwäche, Vergänglichkeit und Ewigkeit sind zu wundersam-ewig-fruchtbarer Natur verflochten, glanzvoll und magisch. Mut braucht es, sich in diesen schlickigen Tiefen zu bewegen, wo die Mysterien verwurzelt sind, und Licht, sich hinabzuleuchten, die Schätze des Ewigen zu entdecken und zu heben. Gewiß aber steht der Engel meiner eigenen Seele hinter mir und beschütz und heiligt das Wagnis dieser Suche – nach meinem Eigenen Kristallenen Selbst.

Neben den vedischen Schriften ist die Kabbala eine der bedeutendsten und ältesten mystischen Überlieferungen, die wir Menschen besitzen. Bezeichnen wir den Tantrismus und die Veden als die religiösen Uroffenbarungen des Ostens, so ist die Kabbala das westliche Gegenstück dazu, der jüdisch-christliche Wurzelstock abendländischer Einweihungslehren. Sowohl die tantrische und vedische Philosophie des Orients als auch die universellen Essenzen des geistlichen Okzidents, dessen Ursprünge tief in die atlantisch-altägyptische Esoterik zurückreichen, führen uns in die metaphysische Welt unserer Existenz und des Lebens ein. Alle diese spirituellen Wege zur Daseinserleuchtung haben unterschiedlichste Hilfsmittel hervorgebracht, dem Menschen ganz praktische Anleitung zur Lebensmeisterung zu bieten. Während in der asiatischen Welt Yoga, Zen und Zenbuddhismus zu den populären angewandten Formen gehören, den ganzheitlichen Weg der Vereinigung von Körper, Seele und Geist zu praktizieren, so haben sich aus der europäischen Tradition zur Wegweisung und Handhabung der Mysterienlehren vor allem die Astrologie und Anthroposophie als angewandte Schuldisziplinen entwickelt und das Deutungssystem des Tarot erhalten, das in Gleichniszeichen die mystischen Entwicklungsprozesse des Menschen versinnbildlicht.

Das ‚Tarot de Marseille‘ ist wohl das bekannteste unter den zahlreichen Kartendecks, die von Künstlern weltweit gestaltet worden sind, je nach den kulturellen, spirituellen oder philosophischen Systemen ihrer Zeit. Auf seiner Grundlage und nach dem Diktat des eingeweihten französischen Dichters und Kabbalisten Stanislas de Guaita (1861-1897) schuf der freimaurische Schriftsteller Oswald Wirth (1860-1943) eine Feingestaltung und bestimmte Koloration dieser Karten, die heute zu den schönsten und sinnreichsten Tarotblättern der Welt zählen. Dieser Tarot, der, wie die wenigsten übrigens, von einem echten Eingeweihten entworfen wurde, war der einzige, den die große esoterische Lehrerin und Künstlerin Elisabeth Haich (1897-1994) einwandfrei geeignet fand, ihn zur Vorlage zu nehmen für ihr kostbares und berühmtes Tarot-Buch. Wer dieses Meisterwerk spiritueller Aufklärung kennt (ihm ist ein vollständiger Kartensatz beigegeben), der mag sich in Schönheit, Genauigkeit und tiefenpsychologischer Deutungsvielfalt kein anderes Blatt zu Studium oder Handhabung mehr vorstellen.
Diese 22 grandiosen Sinnbilder, die zugleich die 22 Bewußtseinsstufen des Menschen vom ersten Erwachen bis zum Allbewußtsein und Einswerden mit Gott darstellen, finden auf ganz erstaunliche Weise Anklänge und Übereinstimmungen in den 28 Bildnissen des Jungfrauenzyklus’ der Malerin Violanthe Christiane Rappl – obwohl sie sich niemals mit diesen Karten beschäftigt, noch auf andere okkulte Übertragungen oder Durchgaben es je bewußt abgesehen hatte: Aus der authentischen Quelle ihres Übersinnlich-Unterbewußten stiegen bildliche Varianten dieser ewig gültigen Seelenwahrheiten auf und drängten die Künstlerin zu darstellerischer Übersetzung. Auch, daß sie ihren Gestaltungen einen eigenen psychologischen Deutungsrahmen schafft – „um Wege in eine erweiterte Bewußtseinsebene aufzuzeigen“ –, diese Verwandtschaft zum symbolischen Denken und Sprechen in den ‚großen Arkana‘ mit ihren 22 innerlich-geistigen Zustandsbeschreibungen ist frappierend: Entweder entsprechen die Sinnbilder Violanthes, sowohl in seelischer Bedeutung als bisweilen sogar auch in der Darstellung selbst unmittelbar einem Original aus dem Tarotblatt, oder aber die Analogie ist indirekt proportional, fast also wie das Negativ bzw. unerlöste Gegenteil einer bestimmten Bewußtseinsstufe in der Tarothierarchie.

Für diese inhaltliche Kongruenz des Jungfrauenzyklus’ zu dem von Elisabeth Haich verwendeten und ausgedeuteten Tarotblatt gebe ich Beispiele. Die Nummerierung der Jungfrauenbildnisse entspricht dabei der Reihenfolge ihres Abdrucks im Büchlein „Die klugen und die törichten Jungfrauen“ (oder der Reihenfolge auch im Jungfrauen-Ordner), wobei T die jeweilige Tarotkarte bezeichnet, J das Bild aus dem Jungfrauenzyklus. Direkt sinngemäß wären insofern vergleichbar: T12 mit J5; T13 mit J8 und/oder J25; T16 mit J27; T17 mit J1; T18 mit J7; T19 mit J3; T20 mit J6 und T21 mit J2. – Den negativ-entgegengesetzten Spiegelungen der jeweiligen Tarotkarten bzw. ihren ‚verkehrten‘ Extremen und pathologischen Ausdrucksformen im psychischen Erleben des Menschen entsprächen: T3 zu J12; T4 zu J18; T6 zu J22; T10 zu J20; T11 zu J9; T14 zu J11 und T15 zu J10. 

Zur erklärenden Illustration des eben angewandten Verfahrens, die erstaunliche Korrespondenz beider Bildsysteme zu verdeutlichen, sei hier die Beziehung in der letzten genannten Bildkombination aufgelöst: Die Tarotkarte 15 trägt den Namen „Der Teufel“, das Bildnis 10 im Jungfrauenzyklus den Namen „Der Mensch, der nur sich selber meint“. In ihrem essentiellen Tarot-Werk schließt Elisabeth Haich die psychologische Deutung des Sinnbildes der 15. Karte wie folgt ab (vgl. dort S. 132: „Tarot - Die zweiundzwanzig Bewußtseinsstufen des Menschen“, Drei Eichen Verlag, 1990, leider nur noch antiquarisch in wenigen Exemplaren erhältlich):

„Der Teufel auf dem Bild trägt beide Geschlechter in sich. Er braucht in sich selbst die beiden nicht voneinander zu lösen. Er hat einen roten Bart, also im Kopf, im Geist ist er männlich-positiv. Seine Brüste sind üppig entwickelt wie bei einer stillenden Frau, also weiblich-negativ. Sein Geschlechtsorgan ist wieder männlich, aber nicht mehr im materiellen, sondern im geistigen Sinn. Sein Geschlechtsorgan ist der Verstand des Menschen, seine Intelligenz, mit welcher er in den Menschen eindringt, von ihm Besitz ergreift und ihn durch seinen Verstand versklavt. Auf der Bewußtseinsstufe der Tarotkarte 15 hat sich der Mensch von dieser Besessenheit befreit.“

Dagegen ist der Mensch auf dem 10. Jungfrauenbildnis weiterhin von diesem Extrem des Menschlich-Teuflischen besessen und ‚kultiviert‘ in sich alle diabolischen Kräfte – anstatt sie in philanthropische Formen mit ihren positiven Aspekten und Möglichkeiten umzuwandeln und sich damit von zwanghafter Selbst- und Herrschsucht zu befreien. In ihrem eigenen Werk schreibt die Künstlerin dazu:

„Daß ein stetiges Kreisen um sich selbst äußerste Enge bedeutet, ist eigentlich für jeden verständlich. Wenn man sich vorstellt, daß wir Menschen nur winzigste Atome sind im gewaltigen Ausmaß der Schöpfung. Wie gewaltig die Schöpfung ist, kann der Mensch mit seiner heutigen Gehirnfähigkeit kaum ermessen. Er hält sich für überaus klug und allen Geschöpfen dieser Erde überlegen. Macht zu haben und Kontrolle ausüben zu können. Aber gerade diese Haltung verhindert die Möglichkeit, über den kleinen Horizont hinauszugehen in die Weite der Schöpfung. Der Egoist meint immer sich selbst. Er bezieht die Außenwelt auf sich und beurteilt sie nach seinem Befinden ihr gegenüber. Einfühlung ist nicht möglich. Er erkennt sie nur durch sein Verlangen und seine Bedürfnisse. Immer spielt dabei auch der Horizont einer Sichtweite die Rolle. Dennoch ist es gleichgültig, ob dieser Mensch ein hochgebildeter und rational kluger oder aber von ganz einfacher Art ist. Ausschlaggebend dabei ist immer, sich als Mittelpunkt des Geschehens zu sehen.“

Wer sich den materiellen Aspekten des Lebens zuneigt und von ihnen bestimmen läßt, wer sie zu beherrschen trachtet, der muß das Satanische in sich ausbauen, denn die äußerliche Welt fügt sich – zumindest kurzfristig und scheinbar unmittelbarer – viel mehr auch allen äußerlichen Einflüssen und Mächten als jeder subtil-geistlichen Einwirkung. Es nimmt daher nicht wunder, daß der ‚moderne Mensch‘ vorzugsweise über Methoden des Krieges kommuniziert, die sich dann auch äußerlich manifestieren: er wird arglistig, hinterhältig, grenzt andere und sich ab, verhärtet, wird kalt, erstarrt. Jeder hat sich zu entscheiden: Unterwirft er sich den vermeintlichen Bestimmungen der Materie, ihrer physischen Dominanz, gehorcht er ihnen und hilft sie mit Tat und Gedanken zu ‚verwirklichen‘ oder gelingt ihm die Enttarnung dieser gewalttätigen Blendungen, die allein vom ‚teuflischen Geist‘ in ihm lebendig gehalten werden. Gelingt es ihm, sich von den falschen Lockungen und betörenden Mächten abzukehren, dann reift und blüht in ihm auch die Fähigkeit, alle in seiner Existenz widerstreitenden magischen Kräfte zu transformieren, sie in einem ganzheitlichen neuen Prinzip zu vereinen, wie auch alle reflexhaften Triebe in schöpferische Impulse zu verwandeln. Erkennt er in sich die Vorzeichnung dieses Weges und beginnt sie mit lebendigen Farben zu füllen, so ‚erfüllt‘ er sich selbst und der Welt die tiefste Sehnsucht im Innersten ihrer Gestalten: mit allen Wesen und allen Aspekten des Seins zu einer seelischen Einheit zu verschmelzen, auf daß es keinerlei Trennung und abgrenzende Vergleichung mehr zwischen irgendeinem anderen Lebewesen oder einer Erscheinung gibt. Auf dieser Stufe hat der Mensch Allbewußtsein erlangt und ist eins geworden mit Gott.

Im Titelbild „Die klugen Jungfrauen“ – und seiner theologischen Metapher – erscheinen alle Ängste und Verletzungen des seiner heiligen Natur entfremdeten Menschen erlöst. Fühlte er sich zuvor ohne Sinn und Halt einem vergeblichen Dasein ausgeliefert und versuchte er diesen inneren Mangel durch alle möglichen äußeren Kompensationen auszugleichen, so weist ihm nun das geistige Licht den zielgerechten Weg hin zu seiner höheren Bestimmung – die in der Ferne schon aufleuchtet. In diesem Bildnis heben sich alle anderen 27 hauptsächlich von Verfehlung und Leid berichtenden Bild- und Textaussagen in einer einzigen menschlichen Vision auf: durch Integration aller Lebensaspekte zu einem gemeinschaftlichen Zustand des inneren und äußeren FRIEDENS zu gelangen – in Ausrichtung auf die höchste Bewußtseinsebene, die der Mensch zu erreichen prädestiniert ist.

 

Künstlerisches Vermächtnis

Das Schlüsselwort also unserer Erlösung heißt Integration: Ganzwerden, Einswerden, Heilwerden. Diese Wahrheit und den Weg dorthin offenbart uns das Leben. Es lehrt uns die Geheimnisse und Zusammenhänge vom Wesen der Welt und unserer Existenz. Ziel ist das Werden des Menschen zum Menschen. „Nichts ist Zufall, alles ist unmittelbare Offenbarung des bewußten oder unbewußten Selbstes.“ (Elisabeth Haich). Jeden Augenblick treibt die magische Kraft durch Gestaltung und Äußerung des Lebens ihre Vollkommenheit voran. „Wir müssen akzeptieren, daß dieser kreative Herzschlag in uns Gottes eigener Herzschlag ist.“ (Joseph Chilton Pearce, Autor z. B. auch des Buches: „Biologie der Transzendenz“, Arbor Verlag, 2002.) Im schöpferischen Ausdruck des Menschen treten Geist, Wille und Wesen Gottes zutage. „Das kreative Potential im Menschen ist ein Abbild Gottes.“ (Mary Daly)

Die künstlerische Dynamik des Lebens und Werkes Violanthe Christiane Rappls entfaltete sich im Spannungsfeld dieser beiden Pole: zwischen der ihr angeborenen Verbindung mit der Ebene einer geistigen Wirklichkeit und der totalen Erschütterung über die gleichzeitige menschliche Isolation von dieser Wirklichkeit und dem dazugehörigen Gefühl unaussprechlicher Verlassenheit. Sehr früh schon, noch in Kindertagen, leuchtete ihr ein, daß es diese furchtbare Trennung vom Wesentlichen des Daseins ist, die all die bekannten Formen der Entfremdung und Verhärtung im psychischen Erleben des Menschen hervorruft. Und so selten sie auf Personen traf, mit denen sie ihre Gedanken und Visionen teilen konnte, um so zwingender traten diese Reflexionen wie zur Selbstrettung aus ihrer bedrängten Seele heraus – um, in Sinnbildnisse übertragen, angesehen, erkannt und als erlöste Bewußtseinszustände in das eigene Selbst eingegliedert zu werden.

In Auseinandersetzung mit diesen Sehnsuchtsthemen, eine Welt der Liebe und Zärtlichkeit zu erträumen, sie zu verkünden und zu verwirklichen, reifen ihre mentalen und psychischen Fähigkeiten, diese Aufgabe menschlich und künstlerisch zu bewältigen. Gleichzeitig bilden sich ihre Maßstäbe aus, die sie an die gestalterische Produktion legt: Ein künstlerischer Ausdruck kann unmöglich essentiellen Wert und Bestand erlangen, wo er in seinem Anruf beschränkt bleibt auf subjektive Begriffe und private Befindlichkeit. Denn nicht um individuelle Wiedererkennbarkeit geht es in der Kunst, sondern um das Allgemeine, das Typische, das Archetypische einer Situation – die auf den universellen Rahmen verweist, der alles umgreift, in den alles eingebunden ist.

Sinnvolle Abstraktion kann es nur vom Konkret-Gegenständlichen aus geben, wobei Verfremdung immer ein Mittel der Überschau sein muß, zur figurativen Anschaulichkeit einer universalen höheren Wirklichkeit. Der wahre Künstler fordert von sich, dieser ‚Kunst-Natur‘ ein Repertoire von Bedeutungsschemen zu erschließen, die jenseits aller dekorativen Elemente als zeitenthobene Sinnbilder einer metaphysischen Realität gelten dürfen. Ohne diese lebendige Beziehung zwischen den Verbindlichkeiten und authentischen Erfahrungen meiner ureigenen Existenz mit allen greifbaren Objekten und der Korrespondenz dieser persönlichen Werte im Kontext einer unpersönlich-ewigen Dimension, in der alle physischen Formen aufgehoben sind, gibt es keinen wahrhaft künstlerischen Ausdruck.

„Gute Künstler haben immer im Gegenständlichen abstrahiert. Das heißt, sie haben auf Wesentliches hingearbeitet, den Kern herausgeholt und konzentriert. Abstraktion ist ein Mittel zur stärkeren Sichtbarmachung, zur Konzentration“, so schreibt Violanthe in ihrer „Kampfschrift gegen die postmoderne Kunst“. Und weiter heißt es dort:

„Die Verachtung des Gegenständlichen in der Kunst ist zugleich auch eine Verachtung des Seelenhaften. Es ist Flucht vor der Anstrengung des Fühlens. Die Angst vor seinen eigenen Ängsten, vor dem Offenbarwerden von Mängeln, der Verwahrlosung der seelischen Wirklichkeit. ... Kunst ist Träger und Vermittler von Kultur, und ich denke, daß darin auch Auftrag und Verantwortung liegen.“

Ganz in Auflehnung gegen die viel zitierte Blasphemie, ‚Kunst könne nichts bewirken, sie hätte keine Macht und keinen Einfluß‘, verwahrt sich die Künstlerin in ihrer Kunstdefinition gegen jede Beliebigkeit und Unbestimmbarkeit, jede Zufälligkeit und rein ästhetisch-schmückende Funktion: Wo der Schaffensimpuls nicht einer kompromißlosen Vision zu revolutionärer Veränderung entspringt, wo ihn nicht Kräfte und Emphase der Opposition, der Rebellion gegen alles seelisch-mörderische unserer mechanistischen Ordnung treiben, da fehlt jede Verbindung zum heiligen Geheimsinn, aus dem das Kunstwerk geschöpft wurde – oder besser: gleich gar nicht erst ist...

Kunst ist Sprache Gottes – wenn sie denn Kunst ist… Ihre ‚Irrationalität‘, die keine eineindeutige Trennung ihrer Begriffe kennt, weil sie Ausdruck selbst der idealen Verschränkung aller Dinge miteinander ist, eine solche ‚unlogische, unvernünftige‘ Ausdrucksform kann nur ‚verstanden‘ werden mit den Augen und Sinnen des Herzens, die kein Gut und kein Böse, kein Wahres und Falsches kennen, nur die Ambivalenz aller Aspekte, in deren Einheitserleben alles nur Teil ist einer einzigen Wahrheit und Schönheit am Grunde alles Seins. Das ist für den Rationalisten nicht nur unlogisch, es ist für ihn sogar tödlich – weil sein ‚Leben‘ sich auf die tödliche Abtrennung vom unvergleichlichen Gesamtwesen gründet, weil seine ‚Vernunft‘ die unmenschliche Unterscheidung in ‚vorteilhaft und gefährlich‘ von ihm verlangt! Nichts wäre ‚gefährlich‘, wenn die LIEBE unter den Menschen wäre – der die Vergleichung oder Differenzierung so fremd ist, wie der ewigen Lebenskraft eine Unterscheidung zwischen Tod und Geburt. Und dieses Geheimnis will Kunst ausdrücken; und da sie es nicht in präzisen rational-logischen, ausschließenden und abgrenzenden Worten tun kann, kleidet sie ihre Botschaften in Poesie, Dichtung, Bild, Musik.

In seinem Büchlein „Die Macht der Musik“ (erschienen im Residenzverlag, 1993, Salzburg und Wien, Zitate von S. 28 u. 18) schreibt der österreichische Dirigent und Cellist Nikolaus Harnoncourt (1929-2016):

„Die Kunst ist es, die den Menschen am weitesten aus allen anderen Lebewesen hervorhebt. Sie macht ihn besser (das haben die Künstler von Anfang an so empfunden), sie ist die Sprache der Liebe, der Gefühle, sie ist ein Spiegel unserer Seele, läßt uns in die dunklen Abgründe unseres Selbst blicken ebenso wie unvorstellbare Seligkeit ahnen.“

Indessen:

„Wir entwickeln uns auf das dekultivierteste Nützlichkeitswesen hin, das schließlich nicht einmal mehr fähig sein wird, die Grausamkeit, Unmenschlichkeit und letzte Unnützheit seiner vernünftigen Aktionen zu verstehen. Die Vernunft hat kein Herz, ohne Musik ist der Mensch kein Mensch.“

Und natürlich, wie es auch Harnoncourt immer wieder betont: ‚Musik‘, genauso wie Dichtung, Poesie und Bildwerk, sie alle stehen synonym für die KUNST im allgemeinen. Nur wer erkannt hat, daß Kunst eine Übernotwendigkeit ist, daß sie das absolut Unnotwendig-Notwendigste ist, weil wir nur durch sie unsere Verbindung zum elementaren Sinnhaften unserer menschlichen Existenz erhalten und uns vor dem Verfall in die rein animalisch-barbarische Natur bewahren können, nur der auch vermag Kunst überhaupt zu sehen, zu würdigen, zu schaffen. Und niemand von diesen hielte sich für areligiös, für atheistisch, für ungläubig – für ehrfurchtslos vor dem heiligen Mysterium unserer Existenz. Und nur solche sind auch fähig, der Welt Werke darzubieten, welche die himmelwärts gewandten Sensorien des Menschen ansprechen, erwecken, ergreifen und sie jenes heilenden Ereignisses teilhaftig werden lassen, das solcherart Kunst ermöglicht. So wie von den Figuren Rudolf Szyszkowitz’ stets eine innere Leuchtkraft geistlicher Überhöhung ausstrahlt, so hat auch Violanthe, die zusammen mit der Benediktinerin Basilia Gürth vielleicht als seine konsequenteste Schülerin bezeichnet werden darf, wie kaum eine andere Malerin unserer Gegenwart die gegenständlich-erhabene Gestalt und das überpersönlich-heilige Wesen des Menschen, sein Nachfühlen und Werden hin zu seinem göttlichen Ursprung in ihren zeitgenössisch-modernen Metaphernbildnissen verständlich werden lassen.

Gäbe es eine universelle Religion, für die das Werk Jolanthe Rappls wie eine bildnerische Übertragung gelten könnte, so fände es seine Entsprechung am ehesten in der poetischen Theologie unseres großen Philosophen und Psychoanalytikers Eugen Drewermann (*1940): In Violanthes Bücherschrank fanden sich alle seine bedeutenden Werke! (Auf unserem Server bzw. hier finden sich Vorträge über christliche Lehren und theologische Fragen von ihm.)

Die folgenden Aussagen aus ihren eigenen Schriften legen Zeugnis ab von der spirituellen Durchdrungenheit, aus der ihr ganzes Schaffen, Sehnen und Leben floß und die ihr weit über die vermeintliche Naivität sowohl ihrer Aufsätze als auch ihrer allegorischen Darstellungen zu jener selten-authentischen Form von Erkenntnissen höchster Wahrheit verholfen hat:

Der Altar war wie eine große Bühne.

Träume sind so etwas wie Steckdosen zur Lebensenergie.

Jeder Mensch, der sich seinen eigenen Schwächen stellt und den Weg der Wandlung geht, ist ein Held.

Gott kann nur anwesend sein durch den Menschen.

Gefühle gehen in die tiefsten Tiefen eines Menschen. Vermutlich sind sie die Wurzeln zu Gott.

Gefühle wirklich entfalten heißt Verzauberung.

Das Fühlen würde ja wiederum Zielsetzung bedeuten, mit der Absicht, den Menschen einer individuellen Form oder auch kollektiven Form zuzuführen.

Es ist auf jeden Fall das Lernen von Empfindung. Und das geht über den Ursprung, und der beginnt doch in der Körperlichkeit.

Gehen wir dem Leben nicht aus dem Weg, verlieren wir uns nicht in Asyle, sondern erleiden wir mit vollem Gefühl diese Welt, so entsteht eine Art Prisma in uns, das das Licht spaltet und sichtbar macht.

Diesem Kreuz [– diesem Schmelzpunkt zu irdisch-überirdischer Erlösung –] sind wir alle unterworfen ... Wollen wir den Himmel, so bleibt uns nichts anderes übrig, als das Böse in uns zu erlösen und es als Humus für das Gute umzugestalten.

Historischen Rang erlangt ein Kunstwerk lediglich, sofern es aus einem unbedingten Willen zur Schöpfung heraus entsteht und sich diese authentische Beziehung zum Gegenstand oder zur Aussage in allen Ausdruckselementen widerspiegelt, aus denen es seine substantielle Bedeutung bezieht.

Dieses allgemeine Kriterium gilt für alle Arten künstlerischen Schaffens, vom Ritus bis zum Bau eines Jumbojets, von der Musik über die Dichtung, über alle Bühnen- und Leinwandkünste, bis hin zu den scheinbar alltäglichsten Verrichtungen, deren Ausführung ebenso tiefstes Verständnis über das Wesen und die Einheit aller Dinge miteinander verlangt oder offenbaren kann. Erst diese essentielle Beziehung zu allem Sein, zu den Sphären göttlicher Intention, zeichnet eine Handlung oder einen Ausdruck mit dem Insigne wahren Wertes aus. Denn zu Wert und Wahrheit gehören das Wie und das Warum, meine innere Haltung, aus der das zeugende Handeln, das Resultat und der Befund fließen.

Erst das intentionale Bewußtsein am Grunde eines Willens, das Motiv, aus dem das Bewirkte erwächst, verleihen diesem Wert und Bedeutung. Nur Werke, die über diese innere Verbindung zu den Urkräften verfügen, können jenen Ewigkeitswert erlangen, der sie zur KUNST macht. Die Wirklichkeit am Grunde aller inneren und äußeren Erscheinungen ist eine ewig-unwandelbar gültige. Ihre gegenstandslose Realität in äußere Formen zu setzen ist höchste Kunst. Unter diesen Kriterien betrachtet weisen die Bild- und Schriftwerke Jola Rappls auf die mystischen Hintergründe unserer menschlichen Existenz und entfalten die Vision einer geistigen Epoche – die kommen muß, weil nichts bestehen bleiben kann in Dissonanz mit der kosmischen Liebe.

„Die Kunst ist das Gewissen der Menschheit“, sagte der deutsche Dramatiker und Lyriker Friedrich Hebbel (1813-1863) – und bietet uns damit ein Sinnbild gleichsam des ganzen Wesens und aller Motive Violanthes, alles dessen, was sie in sich trug und ausdrücken wollte. In leidvollem Erleben erweckt worden für die inneren Verkündigungen fühlte sie die unbedingte Verpflichtung in sich, diese Offenbarungen, die ihr als Seherin und Gewissensteil der Menschheit empfänglich wurden, in der einzig authentischen Sprache des lebendigen Seins – in der Sprache der Kunst – uns zu überliefern.

 

Ableben

Als ihr langjähriger Freund habe ich die Veränderungen in den mentalen Fähigkeiten Violanthes das erste Mal 2011 bewußt wahrgenommen. Seit 2005 hatten wir regelmäßig wenigstens alle vier bis fünf Tage miteinander telefoniert; viele Male war ich seither zu Gast in ihrem Haus in der Eifel gewesen. Da sich Violanthe immer schon, solange ich sie kannte, phantasievoll auszudrücken pflegte und gern auch abstrakte oder spekulative Gedanken vorbrachte, habe ich bestimmte Symptome, die auf eine beginnende Demenz hätten schließen lassen können, nicht sofort als pathologisch einordnen wollen. Als es jedoch keinen Zweifel mehr gab, daß sie bald auf Hilfe angewiesen sein würde, quartierte ich mich ab Frühjahr 2012 mehrmals auf längere Zeit bei ihr ein, um alle Vorsorgeregelungen in Ruhe mit ihr besprechen und die Bewirtschaftung ihres Hauses organisieren zu können. Schon lange war es ihr innigster Wunsch, ihre Bilder in gesicherte Verhältnisse und solche Hände zu geben, die ihr künstlerisches Vermächtnis ihrem Geiste und ihren Intentionen nach in Ehren halten und auch publizieren würden. Da es aber niemanden außer mir gab, der ihr Werk in dieser Weise ideell zu würdigen und überhaupt es auch unterzubringen gewußt hätte, haben Violanthe und ich im Sommer 2012 eine Erklärung verfaßt, die mich, sofern dies nötig werden würde, als ihren Bevollmächtigten zur Regelung ihrer Angelegenheiten ermächtigte. Im September 2012 ließen wir ihre letzten Wünsche auch testamentarisch beurkunden. Diese Papiere wurden schließlich Voraussetzung, jene annähernd idealen Betreuungsverhältnisse, die ihr später zugutekame, auch einrichten zu können – gegen ein unansprechbares willkürliches Amtssystem, wie es deutschlandweit gewöhnlich agiert. Zu danken haben wir dies nicht zuletzt auch unserer Betreuerin, die bereit war, sich auf unkonventionelle Lösungen einzulassen.

Ende 2012 kamen wir um die Bestellung einer Betreuung nicht mehr herum, da Violanthes Unselbständigkeit alle nachbarschaftliche Hilfe zu überfordern begann. Zunächst reichte es jedoch aus, ein privat finanziertes Netz täglicher Kontrolle zu knüpfen: Großer Dank für diese Zeit gebührt unseren Helferinnen Elke, Vera und Yvonne! Das schnelle Fortschreiten der Demenz zwang uns 2013, eine dauernde Unterstützung einzusetzen: ergebensten Dank an die große menschliche Fürsorge, die unsere beiden polnischen Pfleger Edward und Tadek über ein ganzes Jahr lang Violanthe haben angedeihen lassen! Vor ihrer Zuneigung und Hingabe verneige ich mich. Im Februar 2014 konnte der Umzug Violanthes in ein Heim – auch aus finanziellen Gründen – nicht mehr abgewendet werden. Allerdings gestaltete sich dieser gravierende Einschnitt in ihr Leben weniger problematisch als befürchtet. Zweimal habe ich sie in ihrem neuen Zuhause besucht. Immer stand ich in engem Kontakt mit ihrer Betreuerin und den Schwestern vor Ort. Im Sommer 2014 wurden ihr Haus verkauft und aufgelaufene Schulden beglichen.

Im Oktober 2014 erlitt Violanthe einen Schlaganfall. Nach dreiwöchigem Krankenhausaufenthalt konnte sie zurück in das Heim verlegt werden. Sie hatte ihre Sprache und andere wesentliche Funktionen eingebüßt, auch wurde sie nun über eine PEG-Sonde mit Nahrung versorgt. Am 23.12. konnte ich mit ihr noch einmal sprechen: Die Schwestern hatten das Telefon laut gestellt und ich spürte an Violanthes Atem deutlich, daß sie meine Worte der Freundschaft und Zuversicht bewußt aufgenommen hat, daß sie ihr wohltaten, sie beruhigt haben. Am 24.12.14 um 04:30 Uhr hat sie ihre sterbliche Hülle friedlich verlassen.

Zwei Jahre lang hatte sie immer wieder den Wunsch geäußert, endlich sterben, endlich nach Hause gehen zu dürfen – zu jenen heiligen Wesen, die ihr immer doch aus ihrem Herzen Vollendung und ewigen Frieden zugesichert hatten. Keinen schöneren Tag hätte sie wählen können als den Weihnachtstag – an dem doch die Himmelspforten am weitesten geöffnet und uns die Segensbotschaften am vernehmlichsten und eindringlichsten sind…

Mit ihrer Cousine Violanthe verband Hanne Schindler eine aus Kindertagen stammende Freundschaft. Sie schreibt ihrer längsten und ältesten Freundin einen Nachruf, versendet ihn an ihre vier Geschwister und fünf Kinder:

„Herr J. hat mir mitgeteilt, daß unsere Cousine und Eure Tante Jola am 24.12. 2014 verstorben ist. Herr J. ist der Berliner Bekannte, mit dem Jola in den letzten Jahren guten Kontakt hatte, der auch ihre Gemälde alle abphotographiert hat und eine Dokumentation über sie in Arbeit hat. Seit mehr als einem Jahr hatte ich mit Jola keinen Kontakt mehr, weil es wegen ihrer fortgeschrittenen Demenz nicht mehr möglich war. Jetzt will ich sie einfach nicht so anonym gehen lassen.

Ich habe alles, was ich von Jola hatte, durchsucht und nun Photos zusammengestellt, die mir Friedemann freundlicherweise bearbeitet hat. Sie waren teilweise in sehr schlechtem Zustand. Die Jahreszahlen sind von mir manchmal über den Daumen gepeilt. Anhand dieser Photos erinnere ich mich schriftlich an gemeinsames Vergangenes. 

Warum ich das tue? 

Ich will mich von Jola verabschieden. Sie gehört wichtig zu meiner Biographie. Wir waren uns in Phasen sehr nahe. – Als Kinder: Ich habe manche Sommerferien bei den Rappl-Großeltern in Donauwörth mit Jola und ihrem Bruder Fränzle verbracht und habe ganz schöne Erinnerungen daran. – Als Jugendliche: Unsere Eltern haben Jola im Krieg in unsere Familie aufgenommen [sie waren die Pateneltern Violanthes]. Ich teilte mit Jola das Zimmer. Wir gingen in die gleiche Schule, sie, weil drei Jahre älter, Klassen höher. Sie kam aus ganz anderen Verhältnissen und hat uns alle sicher beeinflußt. Diese Zeit habe ich auch als sehr anregend und schön in Erinnerung. Wir wurden Freundinnen. – Als Erwachsene: Jola war oft in Reichenberg, hat meine Kinder alle intensiv miterlebt, war ihnen zugetan und hat Wolfgang [Frau Schindlers 2006 verstorbener Ehemann] geschätzt. – Jola und ich haben viele Gespräche geführt über Selbstfindung, Entwicklung, Erwachsenwerden, über den Sinn des Lebens. Sie hat auch hier gemalt, mich, wie ich an meiner eigenen Person plastisch forme, Holger am Klavier und Katrin in ihrer aus Vorhängen gestalteten Spielwohnung im Speicher. Diese Zeit war für mich wichtig, weil es ein Gegengewicht zu meiner Familienarbeit war. – Als Genesende: Nach der Geburt von Katrin war ich ziemlich strapaziert. Jolas Mutter, Tante Ilse, hat mich im Krankenhaus angerufen und mich zu sich eingeladen zur Erholung. Sie hat mich aufgepäppelt und sich sehr um mich gekümmert. In dieser Zeit habe ich viel von Jola als Malerin mitbekommen. Ich lag auf dem Sofa und schaute ihr stundenlang beim Malen zu. Unvergeßliche Erinnerung. – Als Fastgeschwister: Jola war bei vielen Geschwistertreffen dabei. Sie gehörte zu uns. Einmal hat sie sogar ein Geschwistertreffen bei sich organisiert und so haben wir ihr Haus mit dem angebauten Atelier und ihren geliebten Garten kennengelernt. Sie hat uns die Nord-Eifel und Aachen gezeigt. – In meinen Beständen habe ich noch drei Bücher, die Jola verfaßt hat: „Eine Kampfschrift gegen die postmoderne Kunst“, „Walze contra Himmelreich – Wann beginnt die Evolution des Menschen?“ und „Die klugen und die törichten Jungfrauen – Ein Versuch, Wege in eine erweiterte Bewußtseinsebene aufzuzeigen“. Diese Bücher bringe ich zum nächsten Treffen in Donauwörth mit. – Ich habe mich vor Jahren sehr bemüht, Jola zu einer Ausstellung zu verhelfen, leider ohne Erfolg. Aber Holger [ein Sohn Frau Schindlers] ist es gelungen. Er hat es fertiggebracht, daß 1991 eine Ausstellung in der Werkstatt-Galerie in Kassel stattfand, begleitet von Referaten zu psychiatriekritischen Themen. – Jola war ein durch und durch künstlerischer Mensch, sehr begabt, sehr sensibel und hatte leider kein leichtes Leben. Jetzt ist sie erlöst.“

Seit 1987 trafen sich Frau Schindler und ihre vier Geschwister einmal im Jahr an einem schönen Ort, um dort zu wandern und Zeit miteinander zu verbringen. Violanthe war von Anfang an mit dabei. Für das Jahr 1993 übernahm sie die Organisation und Gastgeberschaft. Ihre ausgewählten Wanderziele führten in die Nord-Eifel und nach Aachen. 2000, als sich die Gruppe in Weimar traf, war sie zum letzten Mal dabei. In Violanthes Nachlaß fand sich ein Fotobericht aus dem Jahr 1989 von einer dieser Touren.

Violanthe Christiane Luise Rappl wurde am 13. Februar 2015 in unserer Familiengrabstelle auf dem Zentralfriedhof Berlin Friedrichsfelde beigesetzt.


Sinnsprüche

Ich möchte dem Leser die Reste meines kleinen Fundus’ an sinnreichen Gedanken fremder Autoren über das Wesen der Kunst und insbesondere der Malerei, den ich mir zur Inspiration und inhaltlichen Wegweisung vorher zusammengestellt hatte und in diese Biographie nicht mehr einarbeiten konnte, nicht vorenthalten: Gerade künstlerisch interessierten Menschen mögen solche Gedankensplitter elementare Maßstäbe und Hilfen zur eigenen Vervollkommnung und Orientierung bieten:

Rudolf Szyszkowitz aus seinen Schriften oder von seiner Internetseite:

Aus einem Brief von 1966: „Das alltäglich ‚akademisch‘ oder auch journalistische Geplätscher ist allüberall so über die Ufer des Geistigen in eine Überwasserzone unverbindlicher Doofheit getreten, daß man davon nichts mehr hören und lesen will.“

03.11.1930: „Ich will meinen Trotz mit meiner ganzen Liebe nähren. Den Trotz gegen das Erstickende um den Funken des Ideals.“

03.11.1931: „Man muß das eigene Leid genießen können, wie die eigene Freude. Im Genuß des eigenen Leides sieht man in die Ewigkeit; das steht schon dafür.“

„Der künstlerische Prozeß ist ein Versuch zu verstehen. Das Unbegreifbare, das von außen her auf uns einwirkt, wird von dem Willen des Menschen zu begreifen, eingefangen.“

„Die Ehrfurcht vor dem Menschen und der Welt kann nicht durch ein Abrücken vom Sinnlich-Sichtbaren errungen werden.“

Georges Pierre Seurat (1859-1891), französischer Maler des Pointilismus:

„Kunst ist Harmonie. Harmonie ist die Analogie gegensätzlicher und ähnlicher Elemente.“

Agnes de Mille (1905-1993), US-amerikanische Tänzerin und Choreographin:

„Leben ist eine Form des Nicht-sicher-Seins, des nicht Wissens, was als Nächstes kommt oder wie es kommt. In dem Augenblick, in dem Du weißt wie, beginnst Du ein wenig zu sterben. Der Künstler weiß nie ganz genau. Wir raten. Wir haben vielleicht unrecht, aber wir machen einen Sprung nach dem anderen in die Dunkelheit hinein.“

James Abbott McNeill Whistler (1834-1903), US-amerikanischer Maler:

„Kunst passiert – keine Hütte ist vor ihr sicher, kein Prinz kann sich auf sie verlassen, die größte Intelligenz kann sie nicht hervorbringen.“

Giorgio de Chirico (1888-1978), italienischer Maler und Graphiker, wichtigster Vorläufer des Surrealismus:

„Um wirklich unsterblich zu werden, muß ein Kunstwerk jegliche menschliche Begrenzung überwinden. Logik und Vernunft stehen dem im Wege. Aber sobald diese Grenzen durchbrochen sind, wird es in Bereiche der Kindheitsvisionen und Kindheitsträume eintreten.“

Martin Ritt (1914-1990), amerikanischer Filmregisseur:

„Die Reflexion ist der Feind der Originalität in der Kunst.“

Paul Cézanne (1839-1906), französischer Maler, Wegbereiter der klassischen Moderne:

„Es gibt eine Logik der Farben und nur damit, und nicht mit der Logik des Gehirns, sollte der Maler übereinstimmen.“

Edgar Degas (1834-1917), französischer Maler und Bildhauer des Impressionismus:

„Erst wenn er nicht mehr weiß, was er tut, tut der Maler gute Dinge.“

Jean René Bazaine (1904-2001), französischer Maler:

„Die Aufrichtigkeit des Künstlers besteht zweifellos darin, daß er sich führen läßt, ohne zu wissen wohin.“

William Blake (1757-1827), englischer Dichter, Naturmystiker und Maler:

„Ich selbst bewirke nichts. Der Heilige Geist vollbringt alles durch mich.“

Piet Mondrian (1872-1944), niederländischer Maler:

„Die Position des Künstlers ist bescheiden. Er ist im Wesentlichen ein Kanal.“

Hazrat Inayat Khan (1882-1927), geistlicher Meister und Begründer der internationalen Sufi-Bewegung:

„Die Worte, die die Seele erleuchten, sind wertvoller als Edelsteine.“

Michele Shea :

„Kreativität ist, ... etwas zu sehen, das noch nicht existiert. Du mußt herausfinden, wie Du es ins Leben bringen und so ein Spielgefährte Gottes sein kannst.“

William Baziotes (1912-1963), US-amerikanischer Maler, Vertreter des abstrakten Expressionismus:

„Jedes Gemälde hat seine eigene Entstehungsgeschichte ... Wenn das Gemälde fertig ist, enthüllt sich der Mensch.“

Theodor W. Adorno (1903-1969), deutscher Philosoph, Soziologe, Musiktheoretiker und Komponist:

„Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.“

Stefan Zweig (1881-1942), österreichischer Schriftsteller, in: Begegnungen mit Büchern, Fischer Taschenbuch Verlag, 1983, S. 184, Balzacs Codices vom eleganten Leben:

„Und da erkennt man wieder die unendliche Verwandlungsfähigkeit Balzacs, sich selbst mit dem Stoffe zu verändern, leicht zu werden an den leichten Dingen, tragisch an den verworrenen, bedeutsam in seinen philosophischen Erörterungen, jene geheimnisvolle Seelenlosigkeit der ganz Großen, die, wie bei Shakespeare, das Göttliche und Unbegreifliche des vollendeten Künstlers darstellt.“

Friedrich Hölderlin (1770-1843), deutscher Lyriker:

„Die Kunst ist der Übergang aus der Natur zur Bildung und aus der Bildung zur Natur.“

Gottfried Benn (1886-1956), deutscher Arzt, Dichter, Essayist:

„Große Kunst wird zwar immer aus sich alleine entstehen, aber ein Volk für sie fähig zu erhalten, dazu bedarf es einer gewissen Pflege von Wissen und einer Erziehung zu gedanklicher Aufmerksamkeit.“

Gerhard Branstner (1927-2008), deutscher Schriftsteller, Philosoph, Regisseur:

„Ohne spielerische Leichtigkeit ist der Gegenstand der Kunst ästhetisch nicht zu bewältigen.“

Shrimad Bhagavatam , Kommentarschrift zu den Veden, den religiösen Leittexten des Hinduismus:

„Schöpfung ist nur das Übertragen in eine Form von dem, was bereits existiert.“

1. Brief des Johannes 4, 7-8 :

„Wir wollen füreinander da sein. Denn das Dasein für den anderen kommt von Gott und entspricht seinem Wesen. Wer für den anderen da ist, hat Leben von Gott und erkennt ihn. Wer nicht für den anderen da ist, hat Gott nicht erkannt. Denn Gott ist Dasein für andere.“

Theodor Fontane (1819-1898), deutscher Schriftsteller und Apotheker:

„Ich glaube an die Wahrheit. Sie zu suchen, nach ihr zu forschen in und um uns, muß unser höchstes Ziel sein. Damit dienen wir vor allem dem Gestern und dem Heute. Ohne Wahrheit gibt es keine Sicherheit und keinen Bestand. Fürchtet nicht, wenn die ganze Meute aufschreit. Denn nichts ist auf dieser Welt so gehaßt und gefürchtet wie die Wahrheit. Letzten Endes wird jeder Widerstand gegen die Wahrheit zusammenbrechen wie die Nacht vor dem Tag!“

Wolf Vostell (1932-1998), deutscher Maler, Graphiker, Bildhauer, Mitbegründer der Fluxus-Bewegung, erklärt 1979 den Frieden zum größten Kunstwerk:

„Im Idealfall sind meine Bilder Störfeuer, Mahnungen, Drohungen, Proteste, Erinnerungen, Fragezeichen.“ ... Zur Gegenüberstellung von Schönheit – Brutalität, Leben –Tod: „Die Kunst ist nur möglich in der Erkenntnis des Todes. Künstler, die ich schätze, haben ihre Malerei gegen den Tod als Gegenwelt aufgebaut. Ich meine jetzt nicht den Tod als Abbild, keinen Totentanz – die Ambivalenz der Sekunde. Malerei ist eine Medizin: den Tod zu bekämpfen als Prinzip, als Gegengestalt. Zeitlich muß der Tod sein, sonst würden alle Künstler sagen, jetzt machen wir erst einmal ein paar Hundert Jahre Ferien; ich würde gerne erst einmal tausend Jahre nichts machen, erst einmal lernen, tausend Jahre, dann Bilder mahlen. Der innere Druck muß ja durch etwas motiviert werden. Was nun die Thematik angeht: Sex und Krieg als Gegenüberstellung treten ab 1962 bei mir in den Verwischungen auf. Ich bin ein Realist, der aber seine Realismen selbst schafft, durch eine neue realistische Technik. Die Technik ist immer das Prinzipielle, während das Motiv, die Idee oder die Kombination von sich widersprechenden Dingen wie Liebe und Krieg das Universelle ist.“ (Zitiert aus: Wolf Vostell „Ms. America, 1968“, vorgestellt in der 3sat-Serie „1000 Meisterwerke“, 2015, von Evelyn Weiss interpretiert: „Die Macht hat sichtbare Opfer – unterschiedliche Kehrseiten derselben Medaille.“)

Friedrich von Schiller (1759-1805), deutscher Dichter, Historiker, Philosoph:

„Nichts Heiliges gibt es als die Wahrheit.“

 

Editorische Notizen

Diese Biographie wurde in großen Teilen im ersten Halbjahr des Jahres 2013 verfaßt, im Oktober 2015 ein erstes- und ein weiteres Mal im März 2018 erweitert und aktualisiert.

Zum Vergleich und zur Einordnung der Arbeiten Violanthes habe ich mich für Teile des Kapitels ‚Konzeptionell-künstlerischer Kontext‘ von Egon Friedells „Kulturgeschichte der Neuzeit“ (Beck’sche Verlagsbuchhandlung 1931, Bd. III) und durch zwei TV-Beiträge inspirieren und anregen lassen: 1. „Alberto Giacometti: Das Porträt Jean Genet, 1955“, von Hermann Wiesler aus der 3sat-Serie „1000 Meisterwerke aus den großen Museen“; 2. „Francis Bacon: Trois personnages dans une pièce, 1964“, von Alain Jaubert, aus der arte-TV-Serie „Palettes – Von den Anfängen bis zur Gegenwart der Malerei, 1995-2007“. Außerdem nutze ich grundsätzlich verschiedene Netzbibliotheken – immer zu dem einen Zweck, meine eigenen Überlegungen mit anderen verfügbaren Quellen zu vergleichen, um ggf. mit ihren Hinweisen, sofern in meiner Reflexion und in meinem Sinne zutreffend, meine eigenen Denkmodelle und meine eigenen Ausführungen in meiner eigenen Sprache anzureichern…

In der letztgenannten arte-Fernsehproduktion, die in über 30 Stunden und anhand von 50 berühmten Malern oder herausragenden graphischen Kunstwerken die Kultur- und Handwerksgeschichte der Malerei nacherzählt – von den ersten Höhlenzeichnungen in Lascaux über die Moderne bis zu Francis Bacon, einem der bedeutendsten Maler des 20. Jahrhunderts – in dieser gesamten Dokumentationsreihe ist nicht eine einzige Frau vertreten! Vielleicht konnten wirklich nur die Gipfelpunkte bestimmter Epochen beispielhaft herausgegriffen werden – und da die Anzahl der Frauen in der Kunst, zumal noch in den vergangenen Jahrhunderten, verschwindend war, gab es keine repräsentative Vertreterin?

Es wäre eine anspruchsvolle Aufgabe, die 28 Gemälde des Jungfrauenzyklus’, zu dem Violanthe in ihrem gleichnamigen Büchlein selbst bereits grundsätzliche Gedanken beitrug, ihrem vollständigen Symbol- und Sinngehalt nach zu erforschen und zu interpretieren – ähnlich den essentiellen Ausdeutungen, wie sie uns von Elisabeth Haich für die 22 Bewußtseinsstufen auf den berühmten Tarotkarten der großen Arkana überliefert wurden.

Frau Rappls Wunsch war es, ihre Bilder und Schriften der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und so ihre Botschaften zu verbreiten, damit der Menschen sich angeregt und gestärkt fühle, sich den wundervollen Möglichkeiten seiner höheren Macht und Bestimmung zuzuwenden. Zugleich bleibt es ebenso menschliches und natürliches Bedürfnis des Künstlers, daß ein breites Interesse für seine Arbeiten sich auch in ‚Wert und Nachfrage‘ niederschlage. Dieses Begehren aber steht im Widerspruch zu seiner ureigentlichen Intention: denn Nachfrage und privater Verkauf führen in aller Regel gerade zur Verminderung der öffentlichen Verfügbarkeit.

Als Beauftragter zur Verwaltung des Nachlasses von Frau Rappl habe ich daher auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen allen Aspekten der Verfügungen Violanthes und dem öffentlichen und privaten Umgang mit ihren Werken zu achten. Daher kann nur ein Teil ihrer Bilder zum Privatankauf freigegeben werden. Der Jungfrauen-Zyklus bleibt vollständig der Präsentation eines Museums oder einer Galerie vorbehalten. Bei Interesse sowohl für den Privatankauf als auch als Kurator oder Galerist können Sie sich mit mir über das Kontaktformular auf der Internetseite www.archiv-swv.de in Verbindung setzen. Technische Details zum photographischen Verfahren und rechtliche Hinweise sind im Ordner ‚Werkarchiv‘ nachzulesen.

Vielen Dank für Ihr Interesse.
Berlin, im März 2018.

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